Die Wissenschaft der AusbeutungUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 5

UDC 4-5 Illu

Wie aus der Arbeitswelt eine Wissenschaft wurde: Frederick Winslow Taylor ist dafür verantwortlich, dass die industrielle Produktion straffer organisiert wurde, die Arbeiterinnen und Arbeiter ob der zunehmenden Spezialisierung schlechter bezahlt und von der Wertschöpfungskette entkoppelt wurden. Natürlich wurde dieses Konzept von ihm vor allen mit und an Afroamerikanern „getestet“ – Rassismus mit Stoppuhr und Notizbuch. Was dieser radikale Shift mit den agilen Methoden von heute zu tun hat, erklärt Timo Daum.

Was bisher geschah:

Agiles Management ist zum Standard geworden – nicht nur bei der Entwicklung von Software, sondern auch in Agenturen, Start-ups und sogar in traditionellen Großunternehmen. Unterstützt werden die agilen Teams dabei von Software für die Organisation der agilen Arbeitsprozesse, für die Messung und Quantifizierung ihres Outputs sowie für die Überwachung der agilen Arbeitsabläufe. Das Management verschwindet dabei bzw. wird unsichtbar im Niemandsland zwischen Selbststeuerung der Teams und digitaler Überwachungstechnologie. Die Unternehmensziele werden von der agilen Revolution dabei jedoch nicht berührt – da geht es nach wie vor um velocity und control.

Mit der großen Industrie hielt auch die Arbeitsteilung im Kapitalismus Einzug. Und hatte gleich zwei dramatische Auswirkungen: Auf der einen Seite erhöhte sie die Produktivität in historisch einmaliger Weise und begründete damit einen globalen Wohlstandsschub, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Zugleich führte die Spezialisierung der Tätigkeiten zu zunehmender Ohnmacht der einzelnen Arbeiterinnen und Arbeiter – und einem Zugewinn an Kontrolle durch das Management über den Arbeitsprozess und damit den Arbeiter selbst. Auf diesen Effekt hatte zuerst der kanadische Marxist Harry Braverman hingewiesen. Schlüssel für diesen doppelten Erfolg ist dabei das nach seinem Entdecker Charles Babbage benannte Prinzip: Werden Arbeitsvorgänge immer weiter zerstückelt und auf unterschiedliche Personen verteilt, können die Arbeitskosten gesenkt werden, da teurer zu bezahlende anspruchsvolle Arbeiten getrennt werden von gering qualifizierten, die mit ebenso geringem Entgelt abgespeist werden können. Das Babbage-Prinzip auf die Spitze trieb erst Anfang des 20. Jahrhunderts ein Selfmademan aus den USA: Frederick Winslow Taylor erfand das „wissenschaftliche Management“ und begründete damit eine heute nach ihm benannte Arbeits- und Managementmethode, den Taylorismus. Taylors „Prinzipien“ sind – ebenso wie das Agile Manifest auch – eine Summe an Idealen und Richtlinien.

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Die Erfindung des Taylorismus

Taylor zufolge ging das Management in den Fabriken seiner Zeit nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ vor. Es versuchte mit einer Kombination aus Anreizen und Strafen mehr aus den Arbeitern herauszupressen – ohne die Arbeitsabläufe jedoch im Detail zu kennen. Demgegenüber war Taylor überzeugt, dass es für jeden Arbeitsablauf eine optimale Art und Weise gebe, ihn auszuführen, die zudem experimentell zu bestimmen sei. Einmal ermittelt, müsse sie nur noch durch das Management rigoros durchgesetzt werden, und das anstehende Optimierungsproblem wäre damit ein für alle Mal erledigt und für alle Beteiligten einsichtig, transparent und nachvollziehbar. Harlow S. Person, ehemaliger Präsident und Geschäftsführer der Taylor Society schreibt anerkennend: „Innerhalb weniger Jahre hatte er eine Managementtechnik entwickelt, die sowohl in Bezug auf die Produktivität als auch in Bezug auf die guten Arbeitsbeziehungen in Bezug auf Sachverhalte und Umfang effektiver war als jedes andere Management.“ Die Arbeitsteilung war zur Wissenschaft geworden.

In drei Schritten zur sustainable pace

Taylor ging bei der Implementierung seiner neuen Methoden folgendermaßen vor: Am Anfang steht die Analyse des Arbeitsprozesses – mit Stoppuhr und Klemmbrett bewaffnet, sollte der Manager zum experimentierfreudigen Erforscher der idealen Bewegung werden. Jede Arbeit wurde in kleinste Einzelschritte aufgeteilt, um diese dann nach Zeit und Bewegungsablauf zu optimieren. Die Aufgabe der Bestimmung der Ideallinie in der Produktion an das Management zu vergeben, war Taylors wichtigste Neuerung und stellte eine radikale Negation der Expertise der Handarbeiter dar, die ja aus einer handwerklichen Tradition mit ihren tradierten Werkzeugen, Kunstfertigkeit und Geschick kamen.

Der- oder diejenige, der sich damit scheinbar am besten auskannte, nämlich diejenigen, die – teilweise jahrzehntelang und in Generationen ein Gewerk betrieben hatten –, wurden gar nicht erst gefragt. Zur Zeit seiner Einführung völlig ungewöhnlich und ein veritabler Affront gegen die Expertise und den damit einhergehenden Produzentenstolz. Die Ermittlung der einen idealen Art und Weise oblag exklusiv dem Management, was dadurch das alleinige Wissen über die Abläufe erhielt und einen doppelten Vorteil erzielte: Anstieg der Produktivität und Rückgewinnung von Kontrolle über den Arbeitsprozess – und damit Herrschaft über die Arbeiterschaft.

In einem letzten Schritt, den Braverman „Detail-Arbeitsteilung“ nennt, wird dann die Konsequenz aus der theoretischen Zerstückelung in einzelne Arbeitsschritte vollzogen, für die Taylor berühmt geworden ist: Sie werden unterschiedlichen Personen zugewiesen. Durch dieses Prinzip der Trennung von Konzeption und Ausführung werden die Arbeiter zum „animierten Werkzeug des Managements“ (Hoxie, Scientific Management).

Frederick Winslow Taylor

Frederick Winslow Taylor, ca. 1873. Foto: gemeinfrei, via Wikipedia

Taylorism 1

Die Instrumente des Taylorismus: Stoppuhr und Notizblock

Taylorism 2

Die Erfindung der task

Taylor kann als Erfinder der task gelten, des einzelnen Handgriffs, der nur noch Bruchstück des Gesamtprozesses ist, für dessen Ausführung keinerlei Fachwissen mehr erforderlich ist, dieses sogar hinderlich ist, und deren Exekutor gar nicht mehr weiß und auch nicht wissen soll, zu welchem Gesamtprozess er einen Beitrag leistet, ob am Ende ein Kühlschrank oder ein Buch rauskommt.

„Das wohl prominenteste Einzelelement im modernen wissenschaftlichen Management ist die Idee der Task“ (Frederick W. Taylor, S. 39)

Die task legt nicht nur fest, was zu tun ist, sondern auch, wie und in welcher Zeit. Taylor verfügt: *„Jeder Mann erhält… vollständige schriftliche Anweisungen, in denen die zu erledigende task detailliert beschrieben wird. Der Mann wird zum Rädchen im Räderwerk der industriellen Maschinerie, die „modernen Zeiten“ (Charlie Chaplin) sind angebrochen!“

Nicht nur die Obsession für tasks, die Parzellierung in kleinste Arbeitshäppchen, hat Taylors „scientific management“ mit agilen Methoden gemeinsam. Auch die Bestimmung der richtigen pace wird geradezu obsessiv rationalisiert: ist die optimale Bewegung gefunden, wird anhand eines Normalarbeiters bestimmt, wie schnell und mit wie vielen Pausen diese durchgeführt werden kann, ohne dass der Arbeiter langfristig Schaden nimmt. Das ist „a fair day’s work“ in den Worten von Taylor, bzw. im Vokabular von heute: sustainable pace*. Taylor, der heute einen eher schlechten Ruf genießt, sah sich selbst nicht als Schinder, sondern als jemand, der den idealen Arbeitsablauf wissenschaftlich herausfindet, diesen etabliert, und nicht mehr aber auch nicht weniger verlangt, als dass dieser minutiös befolgt wird. Ziel ist, dass dieser die Arbeiter nicht verschleißt, sondern dass sie auf unbegrenzte Zeit dieses Tempo einhalten können.

Und das 8. Gebot des Agilen Manifests könnte auch Taylor unterschreiben.

„Agile processes promote sustainable development. The sponsors, developers, and users should be able to maintain a constant pace indefinitely.“ – „Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein gleichmäßiges Tempo auf unbegrenzte Zeit halten können.“ (8. Gebot)

Frederick Taylor stellen wir uns heute als herzlosen Unmenschen, despotischen Schinder und tyrannischen Zwangscharakter vor. Demgegenüber betont sein Mentor Harlow S. Person, er sei stets bemüht gewesen, nicht mit Druck vorzugehen, sondern zu überzeugen, sein Team „mitzunehmen“. Dank seiner Methode würden auch sämtliche Arbeitskämpfe überflüssig werden.

Vom Regen in die Traufe. Die Modernisierung der Sklavenhaltung

Mit seiner Methode der wissenschaftlichen Zerstückelung von Arbeitsabläufen in rationale Häppchen, deren Ausführung vom Management befohlen wird, rühmte er sich, sei eine Verdoppelung der Arbeitsleistung in allen Bereichen möglich. In seinem berühmtesten Beispiel geht es um das Stapeln von 42 kg schweren Roheisenblöcken; die damit Betrauten schafften nach ihrer Taylorisierung doppelt so viele davon zu stapeln, als vorher. Seine Schäfchen verglich er bisweilen mit Gorillas, wahlweise bezeichnete er sie als „trainierte Affen“, verwahrte sich aber stets gegen den Vorwurf, ein „nigger driver“ (etwa: Sklaventreiber) zu sein. Spätestens hier dürfte dem Leser bzw. der Leserin ein Licht aufgehen und die zutiefst rassistische Dimension von Taylors „scientific management“ klar werden: Die Mehrheit seiner Versuchsobjekte waren Schwarze.

Die ungelernten Arbeiter, die er auf seine für ihn typische offene, freche Art ansprach kamen oft aus dem zutiefst rassistischen ländlich geprägten Süden nach Detroit und die großen Städte. Auf der Flucht vor dem Rassismus der Südstaaten und auf der Suche nach waged labour (Lohnarbeit) waren sie, deren Großeltern noch „richtige“ Sklaven gewesen waren, in die Fänge von Taylors Menschenversuchen geraten. Das gewaltsame Hineinpressen in das System der Lohnarbeit in der Fabrik – die von Karl Marx in düsteren Farben gemalte „ursprüngliche Akkumulation“ – wiederholte sich hier fast ein Jahrhundert später in den USA. Bis heute ist die US-Arbeiterschaft gespalten nach Rassengrenzen. Auch einer der größten Förderer von Taylor, der Erfinder des Fließbands Henry Ford, hielt nichts von Arbeitern, die selber dachten, was z.B. in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt:

„Why is it each time I ask for a pair of hands, they come attached to a brain?“

Neben seinen revolutionären Produktionsmethoden, er gilt ja als der Erfinder des Fließbands, tat er sich auch durch antisemitische Schriften hervor. Henry Ford war ein Bewunderer der Nazis, was auf Gegenseitigkeit beruhte: Zu seinem 75. Geburtstags am 30. Juli 1938 wurde ihm als erstem Amerikaner überhaupt das Großkreuz des Deutschen Adlerordens, der höchste Orden des nationalsozialistischen Deutschland für Ausländer, verliehen. Frederick Winslow Taylor wäre auch ein aussichtsreicher Kandidat für eine solche Auszeichnung gewesen.

Dem Kybernetiker Norbert Wiener war die Nähe von Faschismus und hierarchischer Arbeitsteilung in der kapitalistischen Fabrik noch durchaus geläufig. Für ihn waren Systeme, die den Menschen zu bloßen Ameisen degradieren, faschistische Systeme. Für Wiener ist Taylor ein Faschist, er schreibt 1948, noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs:

„Menschen dieser Art ziehen eine Organisation vor, in der alle Information von oben kommt und keine zurückgeht. Die ihnen unterstehenden Menschen werden herabgewürdigt zu Effektoren für einen vorgeblich höheren Organismus“

Und weiter:

„Die Machtsüchtigen glauben, die Mechanisierung des Menschen sei ein einfacher Weg zur Verwirklichung ihres Machtkomplexes. Ich behaupte, daß dieser bequeme Weg zur Macht in Wirklichkeit nicht nur alle ethischen Werte der Menschen zerstört, sondern auch unsere heute sehr geringen Aussichten für einen längeren Bestand der Menschheit vernichtet.“

  • Frederick Winslow Taylor, The Principles of Scientific Management. New York 1911.
  • Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt am Main 1977.
  • Norbert Wiener, Mensch und Menschmaschine, New York 1948.
  • Der Spiegel: Henry Ford und die Nazis

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