Mit agilen Methoden doppelt so schnell werdenUnderstanding Digital Capitalism IV | Teil 2
4.11.2019 • Gesellschaft – Autor: Timo Daum, Ilustrationen: Susann MassuteIn der IT sind agile Methoden zum Standard geworden, aber auch andere Branchen können sich dem Trend nicht entziehen und hoffen auf Geschwindigkeitsvorteile durch kleine, selbständig agierende Teams. So auch in der Automobilindustrie, die ja den Spagat schaffen muss zwischen dem nach wie vor lukrativen Verkauf von fossil betriebenen Ungetümen an meist männliche Fahrer auf der einen Seite und der anstehenden Transformation hin zu datengetriebenen Software-Dienstleistungen auf der anderen Seite. Zwei Beispiele von Konzernen, die a) agil und b) zum Digitalkonzern werden wollen, und warum beides miteinander zusammenhängt.
Daimler wird agil
„Es reicht nicht, alte IT-Projekte neu anzustreichen, und 'agile' drauf zu schreiben“, verkündet Jan Brecht, oberster ITler des Automobilkonzerns Daimler. Er setzt voll auf agile Methoden bei der Software-Entwicklung, um eine Inhouse-Lieferung „wie am Fließband“ umzusetzen. Seit Brecht im Herbst 2015 Chief Information Officer (CIO) beim süddeutschen Autobauer wurde, gilt Geschwindigkeit als Leitmotiv: „Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass Geschwindigkeit nicht nur einer der ganz wesentlichen Erfolgsfaktoren in der IT ist, sondern fast schon eine Strategie an sich”, erklärt er im Interview mit CarIT. Statt einigen wenigen Software-Releases pro Jahr hat die Daimler-IT den Takt auf monatliche oder wöchentliche Updates hochgefahren.
Brecht vermag auch prägnant zu erklären, wie agile Produktionsprozesse zu laufen haben; von einem Projekt-Meeting berichtet er folgendermaßen: „… ich konnte nicht mehr eindeutig sagen, welche Teilnehmer aus der IT und welche aus dem Fachbereich kamen. Alle hatten agile Arbeitsweise schon ganz tief verinnerlicht: Das heißt, das Team liefert kontinuierlich kleine, aber komplette Funktionalitäten, sogenannte Inkremente, und verbessert sie in den darauffolgenden Iterationen. Ganz anders als im Wasserfallmodell, das nach langen Planungs-, Test- und Implemetierungsphasen ein komplexes System liefert, was dann oft fehleranfällig ist.“
Fertige Produkte in kurzen Zeitintervallen abzuliefern, dieses Credo ist im 3. Prinzip des Agilen Manifests niedergelegt und eine der Kern-Ideen von Agilität:
„Deliver working software frequently, from a couple of weeks to a couple of months, with a preference to the shorter timescale.“ – „Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.“ (3. Prinzip)
Die Branche ist demgegenüber geprägt von den Produktzyklen seiner Fahrzeuge. Üblicherweise dauert es fünf bis sieben Jahre, bis eine neue Modellpalette auf den Markt kommt – aus der Softwareperspektive eine halbe Ewigkeit. Gleichzeitig wird die Bedeutung der IT im Autosektor immer größer, und die Car-IT-Abteilungen werden damit zu Hoffnungsträgern der Unternehmen. Das Produkt Auto, die Hardware wird sich – da sind sich die Branchenanalysten weitgehend einig – in den nächsten Jahren grundlegend verändern und durch datengetriebene Services zunehmend ersetzt, die „auf der Hardware laufen“, deren Eigenschaften und Hersteller und Marke dabei zweitrangig werden.
Der weltweite Trend – weg vom Autobesitz, hin zu softwaregetriebenen Nutzungsmodellen – zwingt die altehrwürdige und erfolgsverwöhnte Branche zum Umdenken. Daimler will daher mehr eigene Software herstellen, und dabei schneller werden. Vorbild sind die Digitalkonzerne: „Wir benötigen neue Prozesse, neues Know-how und eine neue Denkweise, um mit der Geschwindigkeit der Digitalunternehmen mitzuhalten,” sagt Brecht.
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Der agile Produktionsprozess
Was bei der Autoindustrie der fünf- bis siebenjährige Produktzyklus ist, also der Zyklus von der Idee bis zur Produktion eines neuen Modells, ist bei Agile der Sprint – bei Scrum, einer der bekanntesten agilen Methodiken, sind es zum Beispiel üblicherweise zwei Wochen.
• Als Sprint wird bei der agilen Produktentwicklung ein festgelegter Zeitraum bezeichnet, in dem bestimmte Arbeiten abgeschlossen und zur Überprüfung vorbereitet werden müssen.
Jeder Sprint beginnt mit einem Planungstreffen. Im Produkt-Backlog – ein backlog ist eine Ansammlung von Arbeiten, die abgeschlossen werden müssen – sind alle anstehenden Aufgaben enthalten. Aus diesem wird für den jeweils anstehenden Sprint ein Teil ausgewählt, der dann den Sprint-Backlog bildet. Bei der Anwendung von Scrum ist es nicht erforderlich, ein Projekt mit langwierigem Aufwand zu starten, um alle Anforderungen zu dokumentieren.
• Das Product Backlog in Scrum ist eine nach Prioritäten geordnete Feature-Liste, die kurze Beschreibungen aller im Produkt gewünschten Funktionen enthält.
• Das Sprint Backlog ist eine Liste der Aufgaben, die vom Team während des Sprints ausgeführt werden müssen. Während des Sprint-Planungsmeetings wählt das Team eine Reihe von Product-Backlog-Elementen aus und bestimmt die Tasks, die zum Abarbeiten derselben erforderlich sind.
Den Feedback- und Optimierungseffekt, den die regelmäßigen Treffen haben, bringt das zwölfte Gebot des agilen Manifests zum Ausdruck:
„At regular intervals, the team reflects on how to become more effective, then tunes and adjusts its behavior accordingly.“ – „In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an.“ (12. Prinzip)
Neue Rollen: Beispiel Scrum
Zu den kürzeren Projektzyklen gesellen sich neue Rollen – so wird etwa bei Scrum der klassische Projektmanager abgelöst durch den Product Owner, der die Kundenperspektive ins Projekt hineintragen soll. Nach Beginn eines Sprints, bei dem ein Sprint planning Meeting stattfindet, muss der Product Owner einen Schritt zurücktreten und das Team seine Arbeit erledigen.
Der Scrum Master hingegen ist eher eine Art Coach denn ein klassischer Vorgesetzter. Er hilft dem Team, das Projekt in Iterationen aufzuteilen, den Fortschritt auf einer Task-Tafel zu verfolgen und Projektgeschwindigkeits- und Burndown-Diagramme zu verwenden.
• Der Product Owner ist im agilen Team für die Definition der Anforderungen und die Prioritätensetzung zuständig. Er oder sie priorisiert das Team-Backlog und überwacht die konzeptionelle und technische Stimmigkeit der Ergebnisse der Produktionsprozesses.
• Der Scrum Master ist dafür verantwortlich, dass das Team nach agilen Werten und Prinzipien lebt und die vom Team vereinbarten Praktiken befolgt.
Erfunden haben Scrum zwei Japaner im Kontext neuer Managementmethoden in der japanischen Autoindustrie („Lean Management“), insbesondere Toyota war dabei in den 1980er- und 1990er-Jahren führend. Im Kern beruht lean production auf der Idee einer schlanken Organisation mit wenigen Hierarchie-Ebenen und kurzen Kommunikationswegen. Hioraka Takeuchi und Ikujiro Nonaka schrieben 1986 in einem Artikel für Harvard Business Review:
„In der heutigen schnelllebigen, hart umkämpften Welt der kommerziellen Entwicklung neuer Produkte sind Schnelligkeit und Flexibilität unerlässlich. Unternehmen erkennen zunehmend, dass der alte, sequenzielle Ansatz zur Entwicklung neuer Produkte einfach nicht zum Erfolg führt. Stattdessen wenden Unternehmen in Japan und den Vereinigten Staaten eine ganzheitliche Methode an: Wie beim Rugby wird der Ball innerhalb der Mannschaft weitergegeben, während er sich als Einheit auf dem Feld bewegt.“
• Ein Team im agilen Sinne ist eine kleine Gruppe von Personen, die dem gleichen Projekt zugeordnet sind.
• Sprint Planning ist ein Ereignis, das zu Beginn eines Sprints stattfindet und bei dem das Team diejenigen Elemente aus dem Product Backlog festlegt, an denen es während dieses Sprints arbeitet.
VW auf dem Weg zum Volks-Digitalkonzern
Selbst der als behäbig verschrieene VW-Konzern setzt auf agiles Arbeiten. Karlheinz Blessing, ehemals Vorstand für Personal und IT im Volkswagen-Konzern, legt ein klares Bekenntnis ab: „Die Arbeitswelt von morgen erfordert eine Führungs- und Unternehmenskultur, die auf Offenheit, Kreativität, Entscheidungs- und Diskussionsfreude baut“. Eigenständige Teams statt hierarchischer Übersteuerung sind auch beim VW-Konzern en vogue. Während autonome Teams alle Projektteilschritte selbständig bearbeiten, können sich Führungskräfte auf die „Definition der Ziele und die Priorisierung übergeordneter Aufgabenblöcke konzentrieren“, so Blessing weiter. Nicht nur in der IT, auch in anderen Abteilungen des Konzerns halten verstärkt agile Formen der Zusammenarbeit Einzug, etwa in der Forschung und Entwicklung oder beim Vertrieb.
VW bündelt bis 2025 mehr als 5.000 Digital-Experten in der neuen Einheit „Car.Software“. Volkswagen ist zudem seit Sommer 2019 das erste Automobilunternehmen, das für die Softwareentwicklung im Fahrzeug ein eigenes Vorstandsressort geschaffen hat und damit gleich zwei große Transformationen auf einmal angeht: Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs auf der einen und den Umbau zum Software-Unternehmen auf der anderen.
Auch der neue Digital-Vorstand Christian Senger setzt auf kurze Iterationszyklen: „Bei Software geht es [bei den Entwicklungszeiten] um Monate, manchmal um Wochen.“ Da kommen die kurzen Projektzyklen der agilen Methodenwelt gerade recht. Senger strebt den Aufbau einer leistungsfähigen Softwareeinheit an, die den Eigenanteil an Software im Fahrzeug bis 2025 auf 60 Prozent steigern soll: „Weniger Bauteileorientierung und mehr Architekturkompetenz“ heißt die Parole. Derzeit sind allein in den Autos der Marke Volkswagen bis zu 70 Steuergeräte mit Betriebssoftware von 200 unterschiedlichen Zulieferern integriert. „Wir brauchen ein neues Grundmodell, in dem wir viel mehr Software selbst programmieren, die Standards setzen und eigene Architekturen entwickeln.“
Mit anderen Worten: Auch VW will mit der Unterstützung agiler Methoden zur digitalen Plattform werden. Nächstes Mal gehen wir weit zurück zu den Anfängen des Managements – und soviel sei gesagt: Die „twice as fast“-Rhetorik wird uns dort wieder begegnen.
Der dritte Teil der vierten Staffel erscheint am 18. November.
Quellen und Links
• Timo Daum, Das Auto im digitalen Kapitalismus. Wenn Algorithmen und Daten den Verkehr bestimmen.
• Konzern IT Daimler, eine Sonderedition von automotiveIT, 02, 2019, S. 5 Ausgabe 5, 2019, S. 54, S. 56
• Hioraka Takeuchi and Ikujiro Nonaka, „The New New Product Development Game“, Harvard Business Review, January 1986, Harvard business school publishing corporation, S. 137-146.