Vom Paradox digitaler Waren zur „One-Copy-Economy“ IIUnderstanding Digital Capitalism | Teil 5

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Musik und Kultur im digitalen Wandel. Mit Napster fing alles an: das erste Filesharing, P2P-Netzwerke, das permanente Verfügbarmachen von Medien dank Internet. Was als Alternative begann, ist heute mit großen Streaming-Plattformen wie Spotify scheinbar zum Standard geworden. Im fünften Teil unserer Reihe „Understanding Digital Capitalism“ erklärt Timo Daum die Entwicklung des Musikkonsums und der -industrie von Napster zu Spotify und Co. und stellt dabei vor allem eine Frage: Ist Streaming Capitalism noch wirklich Kapitalismus?

1999 kam Napster auf, ein kleines Programm, mit dem man kostenlos Musik über das Internet auf seine eigene Festplatte laden konnte – buchstäblich über Nacht. Napster machte das Peer-to-Peer-Prinzip (P2P) populär: Es gibt keinen zentralen Server mehr, von dem viele Einzelne Informationen beziehen, es gibt nur Gleichberechtigte (Peers), die sowohl downloaden (nachfragen) als auch uploaden (anbieten). Der Erfolg der Musikindustrie basierte seit den 1980er-Jahren auf dem Verkauf billiger Plastikscheiben mit digitaler Information zu hohen Stückpreisen und mit eingeschränkten Nutzungsrechten: die Logik des einen Exemplars, das erworben wird zur solitären, privaten Nutzung. Das kleine Napster-Programm, eine weltweite Duplizier-Maschine, an der Professor Bienlein seine Freude gehabt hätte (siehe Teil 1), hat eine ganze Industrie verändert.

Die Erfahrung des Kopierens digitaler Daten mit minimalem Aufwand leitete einen Paradigmenwechsel ein: copying is not a crime! Aus dieser Erfahrung, die mit Napster begann, wurde später die Filesharing-Bewegung, bis hin zur Gründung der Piraten-Partei. Der Ökonom Erik Brynjolfsson bringt das nüchtern auf den Punkt: Nichtrivalität und vernachlässigbare Grenzkosten von digitalen Gütern sind der Grund dafür.

Seit einigen Jahren jedoch geht die Benutzung von Tauschbörsen zurück. Der Absatz von Leermedien bricht ein, Online-Käufe digitaler Musik und Filme stagnieren. Demgegenüber verzeichnen Streaming-Plattformen zweistellige Zuwachsraten. Streaming ist das Laden einer digitalen Information von einem Server zur unmittelbaren Verwendung in Echtzeit und ohne die Erstellung dauerhafter Kopien: Ein einziges Original wird von vielen Usern abgerufen. Die Auslieferung der temporären Ausleih-Kopien – Parallelen zur Ausleihe in einer Bibliothek drängen sich auf – wird durch Netzwerktechnologien gewährleistet, die Wiedergabe findet im Browser statt. Heißt: Streaming ist wie Bibliotheksausleihe. Nur schneller, massiv parallel und privatwirtschaftlich organisiert.

Napster Logo UDc Teil 5

##Echtzeit-Internet
Die ideale Streaming-Erfahrung ist dann gegeben, wenn es keine Wartezeiten gibt und abgerufene Medien sofort abgespielt werden können, zu jeder Zeit und überall. Diese Erfahrung von seamlessness (Nahtlosigkeit) ist nur möglich bei stabiler und dauerhafter Internetverbindung. Nur wenn eine bestimmte Bandbreite (Datenmenge, die pro Zeit übertragen werden kann) konstant zur Verfügung steht, kann ich als User die technischen Prozesse vergessen und das Gefühl haben, dass meine Daten immer für mich da sind: Echtzeit-Internet.

Als Philips 1982 die Audio-CD erfand (die Holländer haben auch die Audiokassette erfunden), war daran noch längst nicht zu denken. Auch wenn es schon private Mailboxen und Datenübertragungen über Telefonleitungen gab, war die Übertragung quälend langsam: der Transfer von Daft Punks „Get Lucky“ (4:08) als MP3-Datei mit einer Datenrate von 160 KBit/s hätte bei Bandbreiten von 300 Bit/s in etwa 37 Stunden gedauert – und das bei einem Minutentarif von 23 Pfennigen bei der Deutschen Post!

Selbst zwanzig Jahre später war an Übertragung von Musik- oder gar Filmdateien über Datennetze noch lange nicht zu denken: Anfang des Jahrtausends nutzten Privathaushalte Telefon-Einwahlverbindungen mit Übertragungsraten von 56 KBit/s. Die MP3-Datei hätte immer noch rund 12 Minuten gebraucht, bis sie vollständig geladen gewesen wäre.
Heute sind always-on-DSL-Leitungen mit 16MBit/s Standard für Privathaushalte. Hier ist die Grenze zur Echtzeit-Erfahrung erreicht: die MP3-Datei ist in zwei Sekunden geladen, durchgehendes Musikhören wird möglich.
Gordon Moore hat 1965 eine Beobachtung gemacht, die seither als Moore’s Law bezeichnet wird: die Komplexität integrierter Schaltkreise verdoppelt sich alle ein bis zwei Jahre. Diese Gesetzmäßigkeit ist wichtigste Grundlage der mikroelektronischen Revolution und gilt auch für Übertragungsraten. Überträgt man dieses exponentielle Wachstum auf die Fahrtzeit Berlin-München mit der Bahn (Anfang der 80er Jahre ca. 12 Stunden im Interzonen-Zug, heute ca. sechs) müsste die Bahn das heute in einer Sekunde schaffen!

Moores Law Tabelle Wiki UDC Teil 5

„Transistor Count and Moore's Law - 2011“ von Wgsimon - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Erst mit der Verbreitung von komprimierter Datenübertragung mittels Digital Subscriber Lines (DSL), dem Wechsel zu ständiger Anbindung statt Einwahl und der Etablierung von Flatrates statt Datentarifen und zeitbasierten Gebühren, werden Angebote wie Musik-Streaming oder video on demand möglich. Das exponentielle Wachstum lässt alle paar Jahre neue Services und darauf basierende Geschäftsmodelle etablieren. Angesichts solch rasanter Veränderung verwundert es dann auch nicht weiter, dass der heute weltweit führende Musik-Streaming-Anbieter Spotify mit über 60 Millionen Usern erst 2006 gegründet wurde.

##Zum Beispiel Spotify
Spotify ist ein Dienst, der Musikdateien über das Internet durch eine Kombination aus serverbasiertem Streaming und der Peer-to-Peer-Technologie überträgt. Es ist in Schweden 2008 „als legale Alternative zur Piraterie entstanden“, so Axel Bringéus, Vorstand bei Spotify. 30 Millionen Musiktitel, die von Musiklabels zur Verfügung gestellt und von diesen lizenziert werden, stehen zum Anhören bereit. Das Unternehmen verkauft keine Musik, es stellt nur temporäre Abspiel-Kopien zur Verfügung.

Legale Streaming-Plattformen müssen in jedem Land mit Rechteinhabern Vereinbarungen treffen und Tantiemen abführen. Spotify gibt an, 70 Prozent seines Umsatzes an die Musiklabels abzuführen, ein weit höherer Prozentsatz als bei anderen Vertriebsformen. Demgegenüber liegen die Lizenzgebühren pro einzelnem Stream um den Faktor 100 niedriger als beim Download, pro Stream werden zwischen 0,0024 bis 0,004 Euro an die Rechteinhaber gezahlt.

Das Geschäftsmodell von Spotify fußt auf dem Prinzip follow the free pricing bzw. dem „Freemium“-Modell: ein Service wird kostenlos (free) angeboten, um möglichst viele Kunden anzusprechen, die dann für kostenpflichtige Zusatzleistungen gewonnen werden (Premium). Ca. 20 Prozent der Spotify-User sind derzeit bereit, rund 10 Euro monatlich für das werbefreie und auch offline zugängliche Angebot zu bezahlen. Bleibt abzuwarten, ob dieses Geschäftsmodell eine Zukunft hat. Der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin bezeichnet die Hoffnung, z.B. der Verlage, für Online-Artikel Geld verlangen und damit das gesamte Angebot finanzieren zu können, als „wishful thinking or naive. Premium/freemium does not work. There’s plenty of free content out there.“

Spotify hat im Jahr 2014 747 Millionen Euro Umsatz gemacht und hat einen Marktwert von 5 Milliarden Euro. 2014 wurde ein operativer Verlust von 93 Millionen Euro erwirtschaftet. Es ist also mehr als fraglich, ob Spotify ein wirtschaftlich tragfähiges Modell ist – Kapitalismus in der Experimentierphase!

##Streaming Economy
Auch wenn Spotify aus der Filesharing-Ecke kommt, führt es doch im Sinne der Musikindustrie „legalen“ Konsum wieder ein: Digitales Rechte-Management (DRM) ist bei Spotify wieder omnipräsent. Nutzungsrechte sind eingeschränkt, Kopien erstellen ist wieder verboten, die Geschäftsbedingungen können jederzeit geändert werden und die Musikindustrie verdient wieder kräftig mit.
Technisch und historisch ist Spotify zwar von P2P-Technologien inspiriert, de facto ist aber wieder ein extrem zentralisiertes Modell entstanden: Ein zentraler Server soll die Musik der Welt für alle zur Verfügung stellen - das exakte Gegenteil der gleichberechtigten Peers-Idee. Für die User ist das bequem und günstig – selbst der Monatsbeitrag für die Premium-Nutzung liegt unter dem durchschnittlichen Verkaufspreis einer Musik-CD.

Was für Folgen hat es aber, wenn die ganze Welt bei einem Unternehmen Musik hört? Dieses Unternehmen hört natürlich mit, weiß genau, wann die User was hören etc.: Es kennt unseren Musikgeschmack besser als wir. Und diese Daten sind natürlich für die Musikindustrie und Werbepartner interessant. Jaron Lanier nennt solche Dienste siren servers in Anlehnung an die Sirenen aus der Odyssee: Die User werden mit kostenlosen Angeboten angelockt, begeben sich in Abhängigkeit eines Anbieters und geben Unmengen an Daten preis.
Die Tendenz zum Monopol ist ein allgemeines Merkmal der digitalen Ökonomie: Sei es Google bei der Suche, Facebook bei Social Media, Amazon beim Online-Shopping, Spotify beim Musik-Streaming – eine the-winner-takes-it-all-Logik am Werk. Ein Service setzt sich durch und verdrängt Mitbewerber vom Markt. Das liegt zum einen daran, dass es im Netz keine lokalen oder nationalen Wettbewerbsvorteile gibt. Und zum anderen am sogenannten Netzwerk-Effekt: Je mehr Beteiligte ein Netzwerk hat, desto besser funktioniert es und desto attraktiver ist es für die Benutzer. Das führt zu einer positiven Rückkopplung, die die Tendenz zur Monopolisierung verstärkt.

Die one percent economy (Andrew Keen) führt auch zur Monopolisierung der Inhalte: Das eine Prozent der Top-Verdiener im Musik-Business räumt satte 77 Prozent des Gesamteinkommens durch aufgezeichnete Musik ab (2013), während die anderen 99 Prozent ein obskures Schattendasein im long tail der Verteilungskurve fristen.

Auch andere Plattformen, die auf unabhängige Inhalte setzen und nicht auf Lizenzierung durch die Musikindustrie angewiesen sind, wie das Berliner Unternehmen Soundcloud, sind auf der Suche nach einem Geschäftsmodell. Das „YouTube der Musik“, das Millionen Songs kostenlos online zur Verfügung stellt und als Plattform für Musikerinnen und Musiker mit starker Social-Media-Ausrichtung antritt, hat jahrelang keinerlei Lizenzgebühren an Musikverlage bezahlt. 2014 schloss man eine Vereinbarung mit Warner und anderen Major-Labels ab, nach der Lizenzgebühren fällig werden. Hat der Kapitalismus in der Streaming-Economy etwa einen Weg gefunden, die Piraten mit ihren eigenen Waffen zu schlagen?

Das preisgekrönte Online-Radio last.fm, ein Pionier im Audio-Streaming-Bereich, ist den umgekehrten Weg gegangen. Bis vor einiger Zeit wurde lizenzierte Musik abgespielt und mit von Usern hochgeladenen Bildern verknüpft. Heute werden nunmehr lizenzfrei YouTube-Videos verlinkt, die Seite ist zum Aggregator von user generated content geworden.

Vielleicht ist es aber auch an der Zeit, Musik als public utility anzusehen – ähnlich wie Strom, Gas und Wasser, als menschliches Grundbedürfnis und Bestandteil der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Und Spotify als Anhör-Dienst mit Musikarchiven und deren Kompetenzen und Aufgaben zu koppeln, denn Spotify ist schon ziemlich nah dran an einem public service, wie die öffentliche Bibliothek. Ist das dann noch Kapitalismus?

Links und Quellen:
Janko Röttgers: Mix, Burn & R.I.P. Das Ende der Musikindustrie. Hannover 2003.
Jaron Lanier: Who Owns the Future, 2013.
Jeremy Rifkin: Vortrag bei Google
Brynjolfsson, Erik and Andrew McAfee: The Second Machine Age: Work Progress, and Prosperity in a Time of Brilliant Technologies. New York: W. W. Norton & Company, 2014.
Wall Street Journal, 06.08.2013: Spotify: Eating Google's Lunch and Loving It
Reuters: Music streamer Spotify doubles 2012 revenues after expansion
Netzwelt: Spotify startet in Deutschland
Buttin (2014): Why a Freemium/Premium business model doesn’t work
Bundesverband Musikindustrie 2014: Musikstreaming erklimmt neue Höhen
The New York Times: SoundCloud Signs Licensing Deal with Warner Music
The Death of the Long Tail | Music Industry Blog

Übersicht aller Texte der Reihe »Understanding Digital Capitalism«

Timo Daum arbeitet als Dozent in den Bereichen Online, Medien und Digitale Ökonomie. Zum Thema Understanding Digital Capitalism fand vor einiger Zeit eine Veranstaltungsreihe in Berlin statt.

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