Superstar Herbert Grönemeyer präsentierte in einem ehemaligen Frauenknast sein neues Album „Das ist los“. Dabei ging es nicht nur um Musik, sondern auch um gutes Essen. Ein ausgezeichnetes Pairing, wie sich herausstellt.
Wenn jemand (wie ich) aus dem Ruhrgebiet kommt und in Bochum gelebt hat, dann ist Herbert Grönemeyer so etwas wie ein guter Onkel. Entfernt verwandt, aber Teil der Gemeinde. Jener Onkel, der witzig ist, über dessen Besuche man sich freut, der einem aber auch was über die ernsten Dinge im Leben erklärt und einen ein Stück weit durchs Leben führt. Auch wenn die eigenen Interessen mit dem Alter andere werden. Onkel Herbert ist irgendwie immer präsent und wenn er kommt, dann hatter auch immer wat zu erzählen.
Herbert Grönemeyer veröffentlicht Ende dieser Woche sein neues Album „Das ist los“ und dafür lassen er und sein Label es ordentlich in Szene setzen. Album-Listening-Sessions sind in der Musikwelt über die Jahre zur eigenen Gattung geworden. Manchmal hört man ein Album in einem Konferenzraum eines Hotels, manchmal in einem Kinosaal oder in einem Club. In der Regel sind solche Events nur halb lustig. Ein bisschen wie Pressevorführungen für Kinofilme, wo schon alle mit einer gelangweilten Fresse an die Sache rangehen und schnell danach zum nächsten Termin müssen.
Ort der Album-Präsentation ist das Fine-Dining-Restaurant Lovis in der Charlottenburger Kantstraße. Zu NS-Zeiten war hier mal ein Frauengefängnis, die Backsteinmauern sind massiv und an vielen kleinen abgerundeten Fenstern befinden sich noch Gitterstäbe. Chefköchin Sophia Rudolph hat in Frankreich gelernt und ist heute Starköchin einer Generation, die sich auf regionale und saisonale Gerichte fokussiert. Es geht um deutsche Traditionen, die weiter entwickelt und interpretiert werden. Sie ist strebsam, jung und sehr apart. Jung ist Herbert Grönemeyer bei Weitem nicht mehr. Aber der Ort ist nicht intentionsfrei gewählt. Grönemeyer ist zweifelsohne deutsches Kulturgut, dabei zeigt er sich modernen Strömungen stets offen gegenüber. Er lässt altersmilde vielleicht einiges entspannter durchgehen, um allerdings bloß nicht der Beliebigkeit oder dem Gefängnis seiner ollen Hits zum Opfer zu fallen. Diesmal arbeitete er unter anderen eng mit Balbina oder dem Elektroniker Hainbach zusammen. Die Sterne im Blick – aber ja nicht die Bodenhaftung verlieren, könnte das gemeinsame Credo von Rudolph und Grönemeyer lauten. Herbert Grönemeyer ist selbst passionierter Koch. Er weiß aber auch, dass Frikadelle mit Filterkaffee und Currywurst bei Dönninghaus bodenständige Heimat sind.
Die Teilnehmenden haben bei der Anmeldung erstmal einen Corona-Test zu machen. Ich bin ein wenig verdutzt, als ich hinter mir höre: „Wie geht das? Ich habe das noch nie selber gemacht.“ Im Innenhof ist eine Fotowand aufgebaut. Kamerateams von Pro7 und ARD lungern davor herum. Bussis hier, Bussis da: „Mensch, so lange nicht gesehen!“ Es ist ein Happening. Junge Influencerinnen und alte weiße Männer der Medienwelt. Am Eingang wird einem erstmal eine Margarita in die Hand gedrückt. Kaum Platz genommen und den Willkommensdrink angerührt, wird ein Grauburgunder von Katharina Weichsler eingeschenkt. 18:30 Uhr. Ich muss mir doch nichts schön trinken?
Amouse-Bouches und Vorspeise
Der Saal füllt sich schnell. Die Tafeln lang gestreckt. Zu mir gesellen sich unter anderem ein Wiener Regisseur, Redakteurinnen einer TV-Talkshow und ein Team von YouTube, wobei erst nicht ganz klar ist, ob die Frauen YouTuberinnen sind oder für YouTube arbeiten. Es ist Letzteres. Grauburgunder Nummer 2. Es kommen die Amouse Bouches (Crostini mit Kräuterschmalz und Montanare) und hausgebackenes Sauerteigbrot, das wirklich schmackhaft ist. Kompakt-fluffige Krume und knackige Kruste. Mit den Vorspeisen beginnt die Präsentation des Albums. Der erste Song „Deine Hand“ startet mit flirrenden Rhodes und wird zum stabilen Midtempo-Stadion-Build-Up mit unterschwelligen Club-Bassdrums. Ravig und fast schunkelig geht es weiter mit dem Titeltrack „Das ist los“. „Bankenkrise, Emirat, Schuldenbremse, Windradpark / Lifehacks, Burnout, Horoskop, Cis binär und transqueerphob / Gucci, Prada, Taliban, Schufa, Tesla, Taiwanwahn“. Dazu Gewürzkürbis mit Ziegenkäse und Zitrus. Danach kommt geschäumte grüne Tomate über süß-sauer fermentierten Jalapeños. Die Musik brettert und ist laut. Eine valide Möglichkeit, um passiv-aggressiv die Gefahr von zu ausufernden Tischkonversationen zu minimieren. Mein linkes Ohr beginnt zu klingeln. Der Kürbis überrascht mit angenehmer Bissfestigkeit, der sonst von mir verschmähte Ziegenkäse offenbart fein süße und dezente Noten. Tomate und Jalapeño sind frisch und luftig. Begeistert nicht alle in der Runde. Ich finde die mexikanisch inspirierte Exkursion nicht unpointiert, auch weil sie den Kopf neu austariert.
Die Stimmung im Raum steigt kontinuierlich. Songs werden mit Szenenapplaus honoriert. Die Piano-Ballade „Tau“ ist auch wirklich berührend. „Manchmal legt sich der Tau sich auf mich und dann werd’ ich leise traurig“ – tief poetisch. Grauburgunder 3, oder doch schon 4? Wie im Schulunterricht verfolge ich die Lyrics auf den getackerten Ausdrucken, die ausliegen. Der Service arbeitet emsig und nahezu perfekt. Neben mir werden die ersten Cocktails bestellt. Sellerie / Erde / Kräuter oder doch Kokos / Limette / Koriander? Sellerie wäre eher was für den Abschluss erklärt der liebe Kellner mit tätowierten Armen, weil er doch recht kräftig und eigenständig sei. Das merke ich mir.
Es ist Stadionmusik mit Substanz. Ein Alleinstellungsmerkmal, das sich Herbert Grönemeyer über die Jahrzehnte hart erarbeitet hat.
In den Songs geht es um Liebe und Verlust, aber auch Gesellschaft und Politik: Flucht und Vertreibung in „Der Schlüssel“, Klimakrise und Zukunftsangst in „Oh Oh Oh“. Die Single „Angstfrei“ zitiert im Chorus frisch seine eigenen 80er-Hits. Auch cheesige Saxofon-Soli wie in „Urverlust“ dürfen sein. Zum elften Song „Eine Tonne Blei“ wird auch der Wein schwerer und dunkler. Ein 2019er Ink Red Cuvée aus der Pfalz soll es sein. Eine Einstimmung auf den Hauptgang, der nach dem Album serviert wird. Nach dem letzten Song „Turmhoch“ gibt es frenetischen Applaus. Die Atmosphäre ausgelassen und gut. Es ist schwer, nicht angetan zu sein. Es ist Stadionmusik mit Substanz. Ein Alleinstellungsmerkmal, das sich Herbert Grönemeyer über die Jahrzehnte hart erarbeitet hat.
Hauptgang und Dessert
Der Sänger kommt nach vorne und wird von der geschätzten Kollegin Aida Baghernejad interviewt. Hinter uns werden zügig Fernsehkameras aufgebaut. Grönemeyer erzählt von seiner Produktion in Italien und von dem Kochbuch, das parallel zum Album erscheint. Die Köchin Lorena Autuori hat den Sänger und seinen Produzenten Alex Silva während des Aufenthalts bekocht. Diese Rezepte wurden in dem schick aufbereiteten Buch „fatto a mano“ gesammelt. Herbert Grönemeyer ist auch im gesprochenen Wort ein exzellenter Entertainer. Sein neuer Signature-Look in Schwarz und mit schwerer Hornbrille wirkt zeitlos und vertraut. Erst scheint er ein bisschen reserviert, als er aber den Raum im Griff hat, will er gar nicht mehr weg. Besonders schön, wenn er sein euphorisches Boah so richtig Bochum intoniert: „Bchoahh!“ heißt es dann. Mit Humor gibt er sich indigniert, als es heißt, es kämen jetzt geschmorte Rinderschulter mit Spitzkohl und Vadouvan, so wie Pilz-Ravioli mit Szechuan und Koriander als Hauptgang. Wer ist denn nun der Hauptgang des Abends? Die Rinderschulter oder Herbert Grönemeyer? Eine berechtigte Frage.
Das Rind ist so ausgezeichnet, dass unser Tisch Nachschlag bestellt. Das Gleiche gilt für die Desserts Cheesecake mit Mandarine und Thaibasilikum und die Windbeutel. Beides Klassiker, die man vermeintlich oft durchgespielt hat. Sophia Rudolph und ihr Team fächern das Spektrum im Bereich Textur und Geschmack dieser Pâtisserie-Standards so intelligent auf, dass um uns glückliche und verzückte Gesichter zu sehen sind. Das ist das Setting, das hier aufgezogen werden sollte. Grönemeyer muss sich nicht neu erfinden, um zu begeistern. Er macht es mit arrivierter Klasse, Anspruch, perfektem Handwerk und frischen jungen Einflüssen. Klar ist das alles eine privilegierte Angelegenheit. Das Leben darf aber auch mal Luxus sein. Es zeigt aber auch die Tatsache, dass Herbert Grönemeyer mit 66 Jahren das ist, was viele seiner Weggefährten der 1980er-Jahre wie Westernhagen, Niedecken und Kunze nicht mehr sind: relevant.