Die Welt ist eine Scheibe20 Jahre HHV: Ein Interview mit Gründer und CEO Tom Ulrich
10.3.2023 • Kultur – Interview: Ji-Hun KimWas als kleiner Mailorder für Underground-HipHop in Berlin-Friedrichshain begann, hat sich im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte zu einer der Vinyl-Institutionen weltweit etabliert. HHV feiert 20-jähriges Bestehen und lebt und zelebriert weiterhin in Zeiten von Streaming und Mobile Music das wohl sinnlichste und langlebigste Musikmedium: die Schallplatte.
HHV fing 2003 als kleiner Laden in der Niederbarnimstraße 4 an. Heute ist aus dem Leidenschaftsprojekt ein kleines Imperium geworden. HHV ist nicht nur weltweiter Versand von Schallplatten, sondern auch Shop für Streetwear/Sneaker und Label. Die hauseigene Redaktion hat einst noch ein eigenes Printmagazin veröffentlicht, heute werden regelmäßig Features, Interviews und Rezensionen online publiziert. Für das Unternehmen arbeiten aktuell 120 Menschen. Im 2016 eröffneten Lager in Berlin-Friedrichsfelde befinden sich 50 Tonnen Vinyl mit 80.000 verfügbaren Titeln. Monatlich werden hier 35.000 Pakete verschickt. Während sich die Vinyl-Landschaft in Berlin in den letzten Jahren stark verändert hat und viele Läden entweder zumachten oder sich umorientierten, läuft hier das Geschäft mit Vinyl weiterhin gut – und selbst die Krisen der letzten Jahre scheinen dem Business nicht sonderlich zugesetzt zu haben.
Wir treffen Gründer und CEO Tom Ulrich an einem suppig grauen Berliner Wintermittag im HHV Shop in der Grünberger Straße. An den Abhörstationen herrscht reger Betrieb. Zeit, bei einer Tasse Ingwer-Zitronentee auf die letzten 20 Jahre und die kommenden zu blicken.
Wie fing es bei dir mit Schallplatten an?
Ich bin in Ostberlin aufgewachsen, 1996 war ich das erste Mal in New York. Da ging es bei mir los. Es gab Beat Street Records und viele andere kleine Läden. Bis dahin habe ich nur CDs gekauft. Ich war Fan von Underground-HipHop. Das meiste davon gab es nur auf Schallplatte. In den folgenden Jahren habe ich meine Sammlung aufgebaut. 1996 waren das noch zwei Kisten. 2002, kurz bevor ich mich selbstständig gemacht habe, waren das schon zwei volle Regale.
Es braucht aber einen Schritt vom Sammler zum Dealer.
Anfang der 2000er haben wir mit Freunden bei verschiedenen Mailordern bestellt. Bevor ich auf HipHop eingestiegen bin, habe ich viel Hardcore, Punk und Metal gehört. Da war EMP eine große Sache. In Hannover gab es Lost and Found. Da haben wir noch per Brief bestellt. Wir füllten Zettel aus und haben sie per Post abgeschickt. So lief das mit den Schallplattenbestellungen. Schon damals hatten diese Shops ein größeres Angebot als die klassischen Plattenläden. Auch waren die Preise oftmals ein bisschen günstiger. Eigentlich haben wir Platten, die wir unbedingt haben wollten, in kleinen Stückzahlen aus der ganzen Welt importiert. Das was übrig blieb, haben wir an Freunde und Bekannte weiterverkauft.
Quasi aus dem Hinterzimmer.
Genau. Schallplatten sammeln und tauschen waren meine Leidenschaft. Erst wollte ich BWL studieren, mein Netzwerk und meine Kontakte waren aber schon so gut, dass ich damit Geld gemacht habe, ohne einen Gewerbeschein zu haben. Ich musste mich also entscheiden, da ich monatlich plötzlich um die 3.000 Mark Umsatz gemacht habe. Bevor das Finanzamt die Sache spitz kriegte, musste ich entweder damit aufhören oder die Sache richtig angehen. 2002 ging das dann los. Mit dem Gewerbeschein bekam ich die Möglichkeit Neuware anzubieten. Wir waren dann einer der ersten Onlineshops.
Wie lief das mit dem Onlineshop?
Anders als man sich das heute vorstellen würde. Auf der ersten Webseite konnte man sich eine Excel-Liste runterladen. Die wurde zwei mal am Tag aktualisiert. Musikfans konnten sich da Produkte aussuchen und dann per Mail bestellen. Oder per Fax und Brief. Bis vor fünf Jahren gab es noch immer Leute, die per Brief bei uns geordert haben. Die Bestellungen kamen aus ganz Deutschland. Vor allem aus Großstädten wie Köln, München und Hamburg.
Euer Angebot hat sich also rumgesprochen?
Wir waren viel auf Plattenbörsen, aber auch auf dem Splash Festival. So hat sich das rumgesprochen. Wir hatten ein gutes Angebot im Bereich Second-Hand-Platten. Discogs gab es ja noch nicht. Im HipHop-Bereich waren wir früh eine Anlaufstelle, wo sich die Leute informiert haben. Außerdem spielte das eigene Interesse eine große Rolle. Wenn du HipHop hörst, dann kommt fast logischerweise Soul, Funk und Jazz dazu. Wo kommen die Samples her? Elektronische Musik hat mich auch schon immer interessiert. Warp Records, Ninja Tunes, MoWax – von den Labels habe ich auch zu Hause eine gute Sammlung. Mit meinem Punk- und Hardcore-Hintergrund war ich immer offen für andere Stile. Da musste ich im Team auch mal Überzeugungsarbeit leisten, öfter nach links oder rechts zu schauen.
Ursprünglich spielte das Medium Vinyl vor allem für DJs eine integrale Rolle. Das hat sich heute verändert.
Das stimmt. Anfangs gab es digitales Auflegen noch nicht. DJs haben mit Vinyl gespielt und die waren eine wichtige Zielgruppe. Wir hatten zwar schon immer einen Fokus auf Sammlerinnen und Sammler, aber im HipHop-Bereich wurden viele Singles an DJs verkauft. Das war bestimmt die Hälfte des Umsatzes. Es gab viele Berliner DJs, die ein bis zweimal die Woche sich mit Neuheiten eingedeckt haben. Mit der Zeit ist das aber völlig weggebrochen. Das hat sich ab 2004 und 2005 angedeutet, nicht nur weil immer weniger Singles für DJs releast wurden. Wir haben diese Krise gut antizipiert und konnten den Wegbruch der DJ-Käuferschaft verkraften, auch weil wir uns in den Genres geöffnet haben. Wir verkaufen bis heute EPs und Singles. Das ist aber eher in der elektronischen Musik relevant. Im HipHop spielt das heute so gut wie keine Rolle mehr, was aber nicht heißt, dass es keine aktive Vinyl-DJ-Kultur mehr gibt. Ich erlebe immer wieder wirklich schöne Partys, bei denen Leute Platten spielen. Es ist aber eine Nische geworden. Es gibt auch junge Menschen, die diese Art des Auflegens für sich entdecken und wertschätzen.
Die Rolle von Vinyl ist eine andere geworden?
DJs kaufen natürlich anders Platten. In den Bereichen Rock, Pop und HipHop sind es heute hauptsächlich Alben. Es gibt viele Fans, die sich von bestimmten Acts die gesamte Diskografie aufbauen wollen. Wir haben viele, die kaufen sich von einem Artist wirklich alles.
Das klingt bis dato nach einer lupenreinen Erfolgsgeschichte. Was aber war schwierig und unerwartet?
Was Zahlen, Einkauf und so anbetrifft, das fiel mir nie schwer. Beim Thema Personal musste ich aber ganz viel lernen. Wenn man sich mit Anfang 20 selbstständig macht und zuvor noch nie Personalverantwortung hatte und da reinwächst, muss man viel lernen und macht dabei viele Fehler. Als junger Mensch willst du Dinge auf eine andere Art und Weise vorantreiben. Anfangs kam ich gar nicht auf die Idee Fragen zu stellen, wollt einfach mit meinen Ideen nach vorne preschen. Heute hole ich Leute viel häufiger rein, frage wirklich nach. Es geht ja nicht nur um Finanzen, sondern vor allem um das Zwischenmenschliche. Sich um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kümmern und gutes Personal zu finden: Das sind die großen Punkte. Es braucht Strukturen, um ein sicheres Geschäft aufzubauen. Und von Jahr zu Jahr gilt es zu schauen, wie wir mit den Entwicklungen umgehen, was die notwendigen nächsten Schritte sind. Nur so ist es möglich, dauerhaft ein gutes Geschäft zu führen.
In den vergangenen Jahren wurde von vielen Problemen in der Vinylproduktion berichtet. Wie wurde das Thema bei euch gehandhabt?
Die Probleme waren real, vor allem gab es sehr lange Produktionszeiten. Ich habe aber das Gefühl, dass sich das die letzten Monate ein bisschen entspannt hat. Bei unseren eigenen Releases müssen wir die Abläufe einplanen. Wir bringen viele Re-Issues raus, bei denen ist es nicht so entscheidend, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt da sind. Aber klar, bei neuen Releases finde ich es schade, dass digital zuerst veröffentlicht wird und die Schallplatte erst sechs Monate später rauskommt. Komischerweise wird die Platte trotzdem verkauft. Vinyl-Fans scheint das nicht abzuhalten. Ich sehe ein viel größeres großes Problem in den Preissteigerungen. Wenn ein neues Album von Kendrick Lamar über 40 Euro im Verkauf kostet, dann ist es schwierig, junge Musikfans davon zu überzeugen, sich mit dem Thema Vinyl zu beschäftigen. Das Budget ist einfach nicht da. Ich habe ein bisschen Sorge, eine neue Generation abzuholen.
„Wenn ein neues Album von Kendrick Lamar über 40 Euro im Verkauf kostet, dann ist es schwierig, junge Musikfans davon zu überzeugen, sich mit dem Thema Vinyl zu beschäftigen. Ich habe ein bisschen Sorge, eine neue Generation abzuholen.“
Ihr verkauft seit vielen Jahren auch Klamotten und Sneaker. War das eine betriebswirtschaftliche Entscheidung?
Wir wollten das Geschäft auf ein sicheres Fundament stellen. In der HipHop-Kultur sind Mode und Sneaker neben Vinyl wesentliche Bereiche. Von Beginn an haben wir Merchandise angeboten. Das hat gut funktioniert, und es war ein konsequenter Schritt. Am Ende geht es uns aber um Kultur. Es gibt Mainstream-Marken, und es gibt Nischen. Es sind wie bei Musiklabels oft kleinere Fashion-Brands, die für uns relevant sind. Die Margen bei Kleidung sind allerdings viel besser. Trotzdem macht die Musik bei uns weiterhin 60 Prozent des Gesamtumsatzes aus.
Was steht für die nächsten Jahre für HHV an? Wo siehst du die Schallplatte in den kommenden 20 Jahren?
Unser Plan ist, immer weiter zu machen. Wir wollen uns weiterzuentwickeln, ein guter Arbeitgeber sein und für unsere Leute da sein. Mir machen Kollaborationen mit anderen Marken viel Spaß. Das öffnet Horizonte. Zu unserem Jubiläum haben wir mit Steiff gemeinsam einen Teddybären gestaltet. Mit der japanischen Brand Edwin haben wir eine gemeinsame Kollektion am Start. Außerdem gibt es unsere eigene Kaffeeröstung in Zusammenarbeit mit 19 Grams. Das freut mich jedes Mal, wenn so was klappt. Wir wollen nicht nur Händler sein, der Dinge einkauft und verkauft. Das eigene Label spielt bei uns auch eine wesentliche Rolle. Ich gehe davon aus, dass wir in 20 Jahren noch Schallplatten hören. Die Sammelleidenschaft gab es immer und die wird es in 20 Jahren noch geben. Für viele Fans gehört das einfach dazu. Eben nicht nur nur digital zu konsumieren, sondern die Lieblings-Artists auch zu Hause im Regal zu haben. Eine Aufgabe wird sein, unsere Bereiche Mode, Design und Vinyl weiter zu denken. Wir würden zum Beispiel gerne mal schöne Plattenregale entwerfen. Ich frage mich, wie das ideale Vinyl-Wohnzimmer aussieht. Gibt es Dinge, die Vinyl-Fans brauchen, die ihnen wichtig sind. Und gibt es einen Beitrag, den wir da leisten können? Die Schallplatte bleibt aber die Basis unseres Geschäfts.