Pageturner: Literatur im August 2020Victor Jestin, Sara Mesa, Katie M. Flynn

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Wer schreibt, der bleibt. Vor allem dann, wenn das Geschriebene auch gelesen, bewertet und eingeordnet wird. In seiner Kolumne macht Frank Eckert genau das: Er ist der Pageturner und versorgt uns jeden Monat mit Reviews seiner literarischen Fundstücke. Das können dringliche Analysen zum Zeitgeschehen sein, aber auch belletristische Entdeckungen – relevant sind die Bücher immer. Der August beginnt jahreszeitgerecht in der Hitze und einem tödlichen Unfall, geht weiter mit der ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem jungen Mädchen und einem alten Mann hinter den Büschen im Park und endet in einer Welt, in der die Pandemie nachhaltig gewütet hat.

Victor Jestin – Hitze

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Victor Jestin – Hitze (2020)

Sommerferien, Zelten in Südfrankreich. Der letzte lange Sommer vor dem Abitur. Das vermutlich letzte Mal mit den Eltern unterwegs. Das Versprechen von Sonne, Sex, Suff, Meer, kontrolliertem Ausrasten, intensivem Leben und wenig Schlaf. Nicht für alle unbedingt ein Glücksversprechen. Zum Beispiel für Léonard. Distanziert, emotionskühl, ein halb selbstgewählter, halb unfreiwilliger Außenseiter in der Hierarchie der Jugendlichen auf dem Campingplatz. Einer immer wieder neu bestimmten, aber doch immer gleichen Hackordnung, in der die Surfer und Beachvolleyballer oben stehen und die blassen ungelenken Über- oder Untergewichtigen, die ihr T-Shirt gerne auch in der Sonne anbehalten, ganz unten. Léonard ist letzteres, einer, dem es immer zu heiß ist und der eigentlich nur darauf wartet, dass der Urlaub endlich vorbei ist. In der vorletzten Nacht vor der Abreise wird er Zeuge, wie sich sein „Rivale“ Oscar (eigentlich nur ein Typ, den er gar nicht kennt, der aber das Mädchen geküsst hat, für das er sich ebenfalls interessiert) schwerst alkoholisiert und druff am Seil einer Schaukel stranguliert – ob Unfall oder Selbstmordversuch, ist nicht klar. Léonard greift nicht ein, wartet einfach hilflos ab, und in einer Kurzschlusshandlung verscharrt er die Leiche im Sand.

Der ungemein konzentrierte Roman – in der Hinsicht eher eine Novelle – des Debütanten Victor Jestin, der nur wesentlich älter ist als sein Protagonist, gibt Léonards Erleben des nächsten Tages wieder. Wie der Trubel am Strand einfach weitergeht, wie der Campingplatz einfach weitermacht. Der emotionsarme Erzähler schlafwandelt durch diese Szenerie, versucht etwas zu fühlen, versucht auch die Geschehnisse der Nacht anderen zu erzählen, Oscars Mutter, seinen Eltern, den anderen Jugendlichen, scheitert aber an allem. Nicht zuletzt, weil niemand Oscar so richtig vermisst, nicht mal seine Mutter. Sowieso spielen die Erwachsenen kaum eine Rolle in dieser ganz eigenen Gesellschaft in der Gesellschaft, diesem juvenilen Zauberberg bei 39 Grad. Diese so seltsam geschlossene aber dabei komplett transitorische immer nur vorübergehend, für zwei, drei Wochen bestehende Welt der großen Versprechen (Sex!) und kleinen Niederlagen (Sex!!), beschreibt Jestin unglaublich präzise und einfühlsam, fast körperlich spürbar, gerade auch in der deutschen Übersetzung. Es ist das Gefühl, oder eher schon der Imperativ, etwas erleben zu müssen, Spaß zu haben, weil man ist ja noch jung, frei und ohne viel Verantwortung für irgendwas. Dazu liegt die hirnerweichende existentialistische Hitze bleischwer über allem und jedem.

Es ist natürlich etwas wohlfeil, diesen im Original vergangenes Jahr erschienenen Roman mit der aktuellen Situation retroaktiv in Beziehung zu setzen. Aber wie hier das Dunkle und Kaputte der doch so spaßig-leichten Urlaubszeit hervorgeahnt wird, ist schon frappierend.

Sara Mesa – Quasi

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Sara Mesa – Quasi (2020)

Das Mädchen Quasi – 14 Jahre alt – verbringt ihre Tage in einem Park in Sevilla. In die Schule, die sie unterfordert und in der sie gemobbt wird, geht sie nicht mehr. Dank eines cleveren Tricks lässt sie die Nachfragen von Eltern und Schule ins Leere laufen – zumindest vorerst. Und dann ist da der Alte, Mitte Fünfzig, Hobby-Vogelkundler, Radio-Enthusiast, Nina-Simone- Experte und Frührentner mit Psychiatrievergangenheit. Sie treffen sich in einem vor neugierigen Blicken geschützten, überwucherten Teil des Parks, in dem das Mädchen seine Vormittage verdämmert, Bücher liest, Musik hört und in dem der Alte die ornithologischen Begebenheiten akkurat dokumentiert. Zwei komische Vögel also, die mit der Gesellschaft nicht klarkommen und umgekehrt. Aus ihrem ungelenken, von peinlichem Schweigen durchsetzten Kennenlernen entstehen nach und nach echte Konversationen und eine sehr vorsichtige heimliche Freundschaft.

Es ist beiden klar, dass erwachsene Männer „eigentlich“ nicht mit vorpubertären Mädchen befreundet sein können. Erst recht nicht – wie sich später herausstellt – ein vorbestrafter Sexualtäter. Wie die Situation quasi zwangsläufig eskaliert und doch nicht so geradlinig katastrophisch endet wie das Klischee erwartet, erzählt Sara Mesa einfach und konzentriert. Ohne ein Wort zu viel verleiht dieser erzählerische Minimalismus der quasi trivialen Geschichte eine immense Sogwirkung. Mesa vermeidet Dramatik um jeden Preis, gelingt es aber dennoch, ein unterschwelliges atmosphärisches Unbehagen zu halten. Wunderschöner, kleiner, schneller und harter Roman und eine feine Entdeckung. Hoffentlich wird von Mesa noch mehr übersetzt.

Katie M. Flynn – The Companions

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Katie M. Flynn – The Companions (2020)

„Two years since quarantine began“. Der erste Satz von Katie Flynns Romandebüt klingt schon verdammt nah dran an der aktuellen Situation. Das täuscht aber ein wenig, denn ihre Spekulationen entwickeln sich in eine andere Richtung. In der Virus-induzierten Situation in diesem Kalifornien der nahen Gegenwart leben die meisten Menschen zwangsisoliert in großen Wohnclustern. Raus dürfen nur Menschen mit viel Geld oder Einfluss. Gegen die Einsamkeit und Sozialverkümmerung bekommen sie sogenannte Companions, in der einfachen Variante Roboter, etwas exklusiver lebensechte Androiden, in die das Bewusstsein (oder Bruchstücke, Erinnerungsfragmente, Charaktersplitter) Verstorbener hochgeladen wurden, um die User Experience etwas realistischer zu gestalten. Für Leute mit Geld ermöglicht diese Technologie eine Version ewigen Lebens, ewiger Jugend. Für alle anderen ist es eine postmoderne Leibeigenschaft. Sie sind Diener, Putz- und Pflegekraft sowie Alleinunterhalter ohne Privatsphäre, mit begrenzter Erinnerung und algorythmisch erzwungener Unterwürfigkeit. Sie werden abends einfach auf Standby gestellt.

Lila ist so ein Companion, mit dem Bewusstsein einer ermordeten Teenagerin. Sie muss als billige Lernhilfe für ein verzogenes sozial inkompetentes Mädchen agieren. Bis eines Tages, nach einem fehlerhaften Update, die Kontrollalgorithmen versagen und Lila eine Ahnung von freiem Willen wiedererlangt. Dazu die ebenfalls von der Companion-Software unterdrückte Fähigkeit, Neues dazu zu lernen. Was ihr die Möglichkeit eröffnet zu fliehen, um ihre verschollene beste Freundin zu finden – und ihre Mörderin.

Mit den Fragen nach der Natur des Menschen, ob der Unterschied von Bewusstsein und Geist ein rein juristischer sein darf, und ob Erinnerung zu „Intellectual Property“ eines Konzerns werden kann, spielt Flynns Roman also eher mit dem Hubot/Replikanten- Genre denn entlang einer handelsüblichen postapokalyptischen Dystopie. Eine zarte Coming-Of-Age Geschichte in einem harten Rollcontainer-Körper.

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