Mozzarellabällchen im NiemandslandFilmkritik: „Irresistible“ von Jon Stewart

Irre1

Rose Byrne und Steve Carell / Alle Fotos: © Universal Pictures

Nach „Rosewater“ kommt nun die zweite Regiearbeit des ehemaligen „Daily Show“-Moderators Jon Stewart in die dank COVID-19 leergefegten deutschen Kinos: ein Polit-Trip in den Flyover-Staat Wisconsin. Ticket lösen und ab mit Abstand ins Lichtspielhaus? Oder doch lieber alte Latenightshow-Folgen auf YouTube anschmeißen? Alexander Buchholz verrät es euch.

Die Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA hat Gary Zimmer (Steve Carell), den politischen Kampagnenführer der Demokraten, regelrecht umgehauen: Er verkriecht sich im Bett und lässt nur noch Siri und Google ans Telefon gehen, wenn die Presse anruft, um ihm seinen persönlichen spin dieser krachenden Niederlage seiner Partei abzuringen. Warum nur sind die Demokraten in den flyover states so völlig unwählbar? Denn selbst wenn die Republikaner Ronald McDonald oder Pennywise oder sonst irgendeinen Gruselclown mit zu viel Theaterschminke aufstellen würden: Ein demokratischer Kandidat hätte dort trotzdem nie auch nur den Hauch einer Chance. Die Dems finden einfach kein Mittel, die tiefrote Mitte des Landes blau einzufärben. Als jedoch einer seiner Mitarbeiter Gary das virale Video eines aufgebrachten Wählers zeigt, der im Rathaus von Deerlaken, Wisconsin, dem republikanischen Bürgermeister die Leviten liest, sieht dieser die einmalige Gelegenheit, seine schmachvolle Niederlage vergessen zu machen und seinen Ruf und sein Ego zu rehabilitieren. So fliegt er kurzerhand als Joe Sixpack verkleidet in das vor dem wirtschaftlichen Ruin stehende Kuhkaff, um sich vor Ort einzuschmeicheln und den Star des Clips, den Veteranen Jack Hastings (Chris Cooper), zum demokratischen Hoffnungsträger aufzubauen. Und tatsächlich können Gary und sein Team Bürgermeister Braun (Brent Sexton) gefährlich nahe auf den Pelz rücken. Als jedoch Garys Nemesis, die republikanische Strategin Faith Brewster (Rose Byrne) von seinen Plänen Wind bekommt, wird der Kampf um Wählerstimmen, so scheint es, um einiges schmutziger…

Chris Cooper

Steve Carell und Steve Cooper

Scherze aus dem letzten Jahrtausend

Und so tragen die Kontrahenten auf dem Rücken der Kleinstadtbewohner auch ihre persönliche Fehde aus und holen das große Geld in die kleine Stadt. Da rollen zwei Koch-Brüder-artige alte Knacker in Rollstühlen in die Szenerie, während der ebenfalls steinalte (und scheinbar bereits tote) demokratische Mäzen in einem ferngesteuerten Roboter-Exoskelett seine Aufwartung macht: Kurz bevor seine Assistenten ihn in Garys Wahlkampfzentrale stapfen lassen, gibt’s den unvermeidlichen Verweis auf die berühmte Wasserbecher-Szene in Jurassic Park.

Wie bitte? Ja, richtig gelesen. Leider fühlt sich Irresistible immer wieder genötigt, alles haltlos zu überzeichnen. Statt seine klassische, capraeske Geschichte ganz konventionell zu erzählen, lässt Stewart seine Politiksatire immer wieder durch einfallslosen und surrealen Klamauk aus der Bahn gleiten – mit Scherzen buchstäblich aus dem letzten Jahrtausend. Wie Hastings Tochter Diana (Mackenzie Davis) eingeführt wird – mit dem Arm bis zum Ellenbogen im Kuharsch – habe ich so oder so ähnlich schon in Doc Hollywood mit dem jugendlichen Michael J. Fox gesehen, vor fast 30 Jahren. Doch das Problem ist nicht nur, dass die Witze von vorvorgestern sind. Auch ist das Timing, mit dem diese erzählt werden, völlig aus dem Tritt. Immer wieder wird Carells zynischer Politprofi über seine Ess- und Trinkgewohnheiten als unheilbarer Snob charakterisiert. Mal sind es die kleinen Mozarellabällchen, auf die er nicht verzichten will und die ihm seine Assistenten besorgen müssen, mal ist es die Bierflasche, die seine verzärtelten Ostküstenhände nicht aufbekommt. Wieviel Zeit für diesen Unfug verschwendet wird! Und ständig lässt sich Gary zu unflätigen Tiraden hinreißen, natürlich immer dann, wenn ältere Damen in der Nähe sind, um indigniert aus der Wäsche gucken zu können. Nicht, dass sich The Daily Show unter Stewarts Ägide für Pimmelwitze zu schade gewesen wäre, aber knackiger erzählt wurden sie da in jedem Fall.

Jon Stewart

Regisseur Jon Stewart

Divide and Conquer

Als Komödie ist Irresistible also ein erstaunlich schlimmer Reinfall. Das ist ein Jammer, denn Stewarts Analyse dessen, was in der politischen Kultur der USA so schief läuft, ist im Kern überzeugend. Dass es das Geld ist, was immer alles mies macht, ist wahrlich keine neue Erkenntnis, aber hier sehr klarsichtig an einem konkreten Beispiel durchexerziert. Denn – spoiler alert – Gary und Faith werden von den braven Bürgern Deerlakens hinters Licht geführt: Der Clip war gestellt, das Ganze nur ein Köder, um die Aufmerksamkeit des politischen Establishments auf die Provinz zu lenken und um den Zaster, den Gary und Faith über Super PACs in den Ort tragen, nicht etwa in den überhitzten Wahlkampf fließen zu lassen, sondern direkt in den Wiederaufbau der brachliegenden Gemeinde. Wie Super PACs ganz konkret politische Prozesse korrumpieren, hat Stewart zusammen mit Stephen Colbert schon damals im Colbert Report eindrücklich dargelegt. Irresistible wiederholt diese Erkenntnisse nur noch einmal – verschüttet unter öden Schenkelklopfern. Man könnte fast vermuten, dass Stewart es nun doch bedauert, sein Meisterwerk 2015 an Trevor Noah abgegeben zu haben, so sehr ist Irresistible eigentlich ein als Spielfilm verkleidetes field piece aus der Daily Show. In den Credits findet sich ein kurzer Ausschnitt aus einem Interview, das Stewart mit dem ehemaligen FEC-Vorsitzenden Trevor Potter über Wahlkampffinanzierung führt, das ist um einiges erhellender als die vorangegangenen einhundert Minuten. Vielleicht sollte Politik-Nerd Stewart, statt Filme zu drehen, lieber mal einen Podcast machen, schon allein um Joe Rogan den einen oder anderen Hörer abzuluchsen.

Auch Stewarts Kritik an der Rolle der Medien ist zwar nicht originell, aber treffend. Das Spiel mit dem Aufwiegeln und Zuspitzen und Spalten, das die pundits und talking heads spätestens seit dem Aufkommen des 24-hour news cycles so perfektioniert haben, dient natürlich niemanden außer ihnen selbst. Die unüberwindliche Spaltung zwischen den red states und blue states, sie ist nur eine leere Behauptung, um das höchst lukrative Geschäftsmodell weiterhin geschmeidig am Laufen zu halten. Ganz wunderbar hat Stewart diese Erkenntnis bei seinem Auftritt im Politiktalk Crossfire, Tucker Carlsons alter Sendung, damals noch mit Fliege unterm Hohlkopf, auf den Punkt gebracht und so die Absetzung des Formats beschleunigt. Auch Gary und Faith haben eigentlich gar keine ideologischen Differenzen, sie vögeln ja sogar miteinander. Deerlakens Bürger haben den Quatsch durchschaut und entsprechend gehandelt. Wir, so wünscht es sich Stewart, sollten das auch tun.

Mann, ich merke gerade, wie sehr ich The Daily Show with Jon Stewart vermisse. Nichts gegen Trevor Noah, aber Stewart war immer my guy. Vielleicht vermisse ich auch nur die Zeit, als lediglich George W. Bush der GAU war und dieser noch nicht vom Tangerine Idi Amin meilenweit unterboten wurde. Wem die Sendung ebenso sehr fehlt wie mir, dem sei als Trost die oral history von Chris Smith ans Herz gelegt. Eine bessere Politiksatire ist John Sayles’ sträflich unbeachtet gebliebener Silver City, zufällig auch mit Chris Cooper. Und, hey, YouTube ist ja voll von alten Daily Show-Schnipseln, wie diesem hier!

Irresistible
USA 2020
Regie: Jon Stewart
Drehbuch: Jon Stewart
Darsteller: Steve Carell, Rose Byrne, Chris Cooper, Mackenzie Davis, Topher Grace, Brent Sexton, Will Sasso
Kamera: Bobby Bukowski
Schnitt: Jay Rabinowitz, Mike Selemon
Musik: Bryce Dessner
Laufzeit: 101 Min.
ab dem 06.08.2020 im Kino

Pageturner: Literatur im August 2020Victor Jestin, Sara Mesa, Katie M. Flynn

Ein kultureller SchlüsselmomentRAG-Doku „We Almost Lost Bochum”