Ein kultureller SchlüsselmomentRAG-Doku „We Almost Lost Bochum”

rag

Pahel, Aphroe und Wiz von RAG. Alle Fotos: Mindjazz Pictures

„We Almost Lost Bochum“ ist vielleicht eine der besten Musikfilmdokumentationen, die je gemacht wurde. Im Kinoformat erzählen Julian Brimmers und Benjamin Westermann anhand von Interviews, Archivmaterial, privaten Filmaufnahmen und assoziativen Bildern die Geschichte der einflussreichen Ruhrpott-Deutschrap-Crew RAG.

Deren Geschichte ist zugleich eine Erzählung von Freundschaft, Erfolg und Scheitern, vom Scheinen, Suchen und Verschwinden, ein Blick auf die zweite große Welle des deutschsprachigen HipHop um die Jahrtausendwende. Und ist exemplarisch für das oftmals divergente Verhältnis von Mainstream und Subkultur. Die Doku berichtet zudem von Migration im Pott der Siebziger und Achtziger, beschreibt (Musik-)Mediengeschichte vor dem Internet, ist eine Parabel über Poesie und Selbstvergewisserung, eine eindringliche individuelle wie kollektive Geschichte des Ruhrgebiets im Strukturwandel und letztlich eine Narration von Tod und Leben tief im Westen. Was sich nach viel Stoff anhört, offenbart sich leise, nachdenklich und zurückhaltend in der im September 2020 erscheinenden Doku. Der Blick des Films vermeidet es – trotz aller Tragik und Melancholie, die mit dem Werk RAGs korrespondieren – voyeuristisch, nostalgisch oder verklärend zu sein. Das ist große Kunst, wie sie lange nicht mehr auf der Leinwand zu sehen war und sich dabei einer Erzählweise und eines Stiles bedient, der auch Zuschauer*innen außerhalb der HipHop-Community berührt.

„Verfall der Halbbarkeit, denn nichts ist so beständig wie Vergänglichkeit“ reimt RAG (Ruhrpott AG) auf „Kreuzwortfeuer“, dem letzten Track ihres legendären Albums „Unter Tage“ von 1998. Das Stück verweist ungewollt prophetisch auf die Bandentwicklung. RAG sind das deutsche Pendant zu Freestyle Fellowship, Brand Nubian oder Company Flow im US-amerikanischen HipHop: stilprägend für das Genre, gefeiert von seinen Protagonisten in seiner metaphorischen Dichte und melancholischen Selbstbezogenheit bis heute, aber nicht im kollektiven Musikgedächtnis verankert. Aus anderen Musikrichtungen berichten Dokus wie Anvil! The Story of Anvil (Metal) und A Band Called Death (Punk) von ähnlichen Biographien. Die Geschichte von RAG wird exemplarisch für eine Zeit im deutschen HipHop erzählt, die ein kultureller Schlüsselmoment war. Regisseur/Autor Brimmers und Kameramann/Cutter Westermann begeben sich dabei fragend auf eine Spurensuche, bei der weder dem Publikum noch den Filmschaffenden die Antworten vorher klar sind. Das erinnert in seiner Recherche bis in die Gegenwart und enormer Fallhöhe entfernt an Searching For Sugar Man, Buena Vista Social Club und Wo bist Du, João Gilberto?. In drei Akten nähert sich We Almost Lost Bochum würdevoll seinen Themen chronologisch, um im weiteren Verlauf des Films stilistische Kniffe einzubauen.

„Im Dschungel der Erinnerung bewegen wir uns wie auf Trampelfaden!“
(Ragtime)

Die Biographien der RAG-Mitglieder Aphroe, Pahel, Galla und Mr. Wiz werden individuell und ihrem Zusammenlaufen gezeigt. Dabei beginnt der Film nicht bei den Ursprungsmythen des deutschen Raps, sondern fokussiert lokal die Clubkultur, welche Aphroe früh geprägt hat, nämlich den Bochumer Logo-Club mit Ralf Odermann an den Plattentellern, wie Oliver von Felbert zu berichten weiß (a.k.a. DJ Olski, ehemals Spex-Redakteur und Autor der famosen ARTE-Doku London Jungle, Betreiber des Labels Melting Pot Music). Es ist überhaupt eine Stärke des Films, dass er beispielhafte Künstlerbiographien nicht nur im O-Ton der RAG-Akteure selbst aufrollt, sondern um Relativierungen durch zusätzliche Blickwinkel auf das Geschehene ergänzt. Zu Wort kommen u.a. Sprüher, Freund und Tourbusfahrer 50Svenz/SOME sowie mit Gurbet Erbulan die ehemalige Lebenspartnerin des unter diffusen Umständen tragisch verstorbenen RAG-Mitglieds Galla, und diverse Musiker wie Curse, Die Kassierer, Stieber Twins, STF oder Retrogott.

Der Film versucht in den intimen Momenten der Selbstoffenbarung Distanz zu wahren und der nicht ganz abgeschlossenen Verarbeitung der Bandgeschichte durch seine noch lebende Mitglieder Raum zu lassen. So weicht anfängliche Skepsis vor mainstreamiger Zurschaustellung der Geschichte im Entstehungsprozess des Films sowie die vielleicht teilweise ungewohnte Wiederkehr von großer Öffentlichkeit für Pahel, Mr. Wiz und Aphroe besonders intensiven, ehrlich wirkenden Augenblicken der Doku. Etwa wenn das Publikum durch die Augen Gallas in die vielen Amateuraufnahmen blickt, die der verstorbene Rapper gemacht hat und der nicht mehr gehört werden kann. We Almost Lost Bochum gelingt es, eine Art Mittelwert aus den Aussagen kritisch eingeordnet zu generieren und mit Bewegtbildern wie auch Fotos bestehend aus VIVA- und MTV-Archivmaterial zu ergänzen, darunter viele erstmals veröffentlichte Privataufnahmen damals/heute und Ruhrpottimpressionen. Schnitt (Westermann), Score (Claude Speeed, HADE, Lucrecia Dalt, Deradoorian, Milan W., Local Standard Time, DWFL) und Location-Auswahl in den Industrie- und Clublandschaften unterstützen den Selbstanspruch des Films als unabhängige journalistische Arbeit. Assoziativ wird es bei Kamerafahrten um den Dortmunder Wohnkomplex Hannibal, in Bildern von Bunkern und ehemaligen Hochöfen oder der S-Bahn-Haltestelle Dortmund-Dorstfeld: „Leb’ im Ballungsgebiet, das an Druckpunkten wie Fallobst aussieht“, wie es RAG im Track „Tief Im Westen“ ausdrücken.

„Hört Euch genau an, wie wir an zu Süßem versauern“ (Kreuzwortfeuer)

RAG ist ein Zusammenschluss aus den beiden Ruhrgebiet-Duos Raid (MC Aphroe & DJ Wiz) und Filo Joes (Pahel & Galla). Die in Eigenregie produzierte Platte „Unter Tage“ erscheint 1998 beim Underground-Label Put Da Needle To Da Records und verkauft direkt 20.000 Einheiten. Und das in einer Zeit, in der deutschsprachige HipHop-Musik nicht zwangsläufig für die Charts gemacht wurde. In den Neunzigern hatte deutscher HipHop zuvor oftmals etwas von einem Geheimbund, der unter sich bleiben wollte, um sich gegen die Musikindustrie abzugrenzen. War HipHop eine subkulturelle Praxis mit Jams, Tape-Kultur und eigenen Vertriebs- und Kommunikationswegen, so wurden mit dem Erfolg deutscher Crews wie Dynamite Deluxe, Blumentopf, Freundeskreis, Absolute Beginner, Deichkind, Fettes Brot usw. Vorschüsse von größeren Labels für junge Musiker wie RAG verfügbar. Doch das zweite RAG-Album wird für die in Bochum brütenden Musiker zur Zerreißprobe: Verkaufsdruck und kreative Differenzen führen zum Zerwürfnis der Bandmitglieder. Das Album „Pottential“ erscheint zwar 2001 und ist mäßig erfolgreich, doch deutscher HipHop hat sich dahin Richtung Battle- und Gangster-Lyrics entwickelt. Aggro Berlin mit Sido, Bushido und Co. sind das neue Ding bei den großen Labels, Kool Savas etabliert sich in den Charts. Der Rest ist allgemein bekannt. Nur das weitere Schicksal von RAG nicht. Hier soll nicht allzu viel gespoilert werden, nur so viel: „We Almost Lost Bochum“ erzählt von Kreativität und Freundschaft, dann vom Scheitern und dem Tod, dem Versuch zurückzukommen und dem Neuordnen des Lebens. Dabei stellt sich der über vier Jahre in der Freizeit gedrehte Film auch die Frage, was passiert, wenn das künstlerische Leben im Underground anerkannt wird und zu größerer Sichtbarkeit, zum Berufsmusikertum überführt werden soll, der große Sprung aber ausbleibt. Es wird emotional in der Doku, vom Lachen über das Weinen hin zu offenen Fragen und Hoffnung.

„Verdammtes Was nun? Wir sind raus aus unseren Kinderschuhen! Ohne Gewähr, nur vage Vorhersage, weiß nicht, wie viele Tage ich den Unterdruck ertrage. Ohne Gewähr, nur vage Vorhersage, als ob jeder Beat meine Klagemauer wär'“
(Ohne Gewähr).

mtv

RAG auf MTV

graffitti

Aphroe vor einem Galla-Graffito

pahel

Pahel und seine Familie

„Trägst zu dick auf, weil Du mittlerweile Schminke liebst.
Siehst blendend aus, versprichst viel, aber hältst Du das auch?
Benutzt uns als Treibstoff, wir fühlen uns verbraucht.
Gaben der Quote den Bruch, jetzt schickst Du Klone in Zucht.“
(Tief Im Westen)

Die gezeigten Lebensgeschichten verweisen ebenso wie die Reime im Revier auf gesellschaftliche Verhältnisse. Pahel und Mr. Wiz sind als Afro-Deutsche in den Siebzigerjahren alltäglichem Rassismus ausgesetzt. Schließlich verlässt Pahel nach dem Auseinanderdriften der Band Deutschland in Richtung USA, während Wiz zwar meist noch in Köln wohnt, aber immer eine längere Zeit im Jahr beim Großteil seiner Familie in der South Bronx verbringt. We Almost Lost Bochum ist auch ein Film über Migration, Familie und der Suche nach Heimat, die das Ruhrgebiet und deutscher HipHop im Wandel nur bedingt für RAG bietet. Das Ringen nach einem Umgang mit den eigenen und regionalen Verhältnissen, Selbst- und Fremdansprüchen war immer Bestandteil des Schaffens von RAG in nachdenklichen Lyrics, referenziellen Samples und einer reduziert-klaren Beatsprache. Ihrer Liebe, dem HipHop, bleiben die verbleibenden RAG-Mitglieder nach der Trennung treu. Die individuelle Neuordnung sieht jeweils unterschiedlich aus. Am bekanntesten dürfte wohl der Weg von Aphroe sein, der hiesige Bühnen weiter rockt und mit „90“ im Jahr 2012 ein dickes Soloalbum veröffentlichte. Ihres Legendenstatus bei HipHop-Kenner*innen wird sich RAG beim Galla-Memorial-Benefiz-Jam in der Rotunde Bochum oder bei ihrer 20 Jahre-RAG-Tour mit Auftritten vor ausverkauften Hallen in Dortmund, Köln etc. spätestens wieder bewusst geworden sein. Ihre Pott-Poesie ist unvergessen.

„Ich setz mein Ego mit Stratego im Feldzug.
Risiko - Ich könnte heulen wie Pierrot.
Doch am Ende ist sowieso alles nur Teil der großen Show“
(Stratego)

Der Doku-Titel verweist auf den Song „We Almost Lost Detroit“ von Gil Scott-Heron und Brian Jackson, welcher nicht nur oft im HipHop gesampelt wurde, sondern auch inhaltlich mit dem Thema eines Beinahe-Atomunfalls in Detroit an die Ruhrpott-Industrielandschaften und HipHop im Strukturwandel anknüpft: Es liegt Verlust und etwas Bedrohlich-Unsicheres in der Luft. 2011 schlägt Aphroe in „The Cities“ (mit Elzhi, Frank’n Dank, J.R. & PH7) eine weitere Brücke Bochum-Detroit. Bei aller Krise bewahrt sich die Doku viele glänzende Momente. RAG haben etwas erreicht, wovon viele MCs und Beatschmieder*innen träumen: einen ikonographischen Status und ein bis heute verehrtes Werk in der Community. Auch sind es die Momente voller Freundschaft und Hoffnung, die den Film nachhaltig tragen.

Die Vielschichtigkeit von RAG in das Medium Film zu übertragen und sowohl für die Szene als auch für ein breites Publikum zugänglich zu machen, war eines der Anliegen von Brimmers und Westermann. Beide sind am Rande des Ruhrgebiets mit HipHop aufgewachsen. Julian Brimmers ist einer der besten deutschen Musikjournalisten, arbeitete und arbeitet für Juice, Jungle World, Spex, bei COSMO, dublab.de, ALL GOOD sowie für die Labels Tru Thoughts in Brighton und Melting Pot in Köln. Er dozierte für die Red Bull Music Academy und schrieb nicht nur über HipHop, sondern auch über Stockhausen, Novelist, DJ Koze und weitere. Regelmäßig checkt er die Plattenläden, Pop-Magazine, Bandcamp und die Independent-Radiokultur. Sein Kumpel seit Schulzeiten, Benjamin Westermann, machte als DWFL mit HADE Beats, lernte das Filmschneiden bei TV Total, machte sich als Cutter selbstständig und zog sich für den großen Traum eines eigenen Films bei We Almost Lost Bochum Kameraskills drauf. Mit privatem Geld und später mit Unterstützung der Film und Medien Stiftung NRW sowie mit enormen HipHop-Wissen, das ans Publikum gebracht werden wollte, realisierten sie die Dokumentation – auch um den offenen Fragen um RAG, die seit der Pre-Internetzeit bestehen, nachzugehen. Nach dem kleinen Doku-Hype seit der starken Michael-Jordan-Dokumentation The Last Dance kommt der Film gerade richtig, zunächst nur in ausgewählten Autokinos des Ruhrgebiets, im September aber in die regulären Kinos. Das Goethe-Institut hat We Almost Lost Bochum bereits lizenziert.

Zeit vor dem offiziellen Filmstart mit den beiden Machern zu sprechen.

Warum fokussiert ihr euch auf die Zeit des Umbruchs im deutschsprachigen HipHop um die Jahrtausendwende? Schwingt da Nostalgie mit und war das für euch eine goldene Zeit?

Julian: Ich glaube, sowohl Ben als auch ich halten wenig von nostalgischer Verklärung. Sehr oft speist sich dieser Golden-Era-Gedanke ja einfach nur aus der Tatsache, dass man bestimmte Musik als Teenager gehört hat. Natürlich ist das bei uns auch der Fall. Aber der Deutschrap-Boom Ende der 90er ist für uns aus anderen Aspekten interessant.

Ben: Uns war von Anfang an klar, dass Nostalgie für die Zuschauer eine Rolle spielen wird. Gleichzeitig ist das natürlich auch immer eine Falle. Wir sind keine „Die gute alte Zeit“-Menschen. Deswegen wollten wir ja auch einen Film machen, der sich mit allen Aspekten, auch den kritischen, der Band und der ganzen Szene auseinandersetzt.

Julian: Wobei man auch sagen muss, dass die Songs von RAG wirklich gut gealtert sind.

Wie wichtig ist für den Film und das Schicksal von RAG der Zeitpunkt der Pre-Internetära?

Julian: Sehr wichtig, tatsächlich. Einfach, weil viele der Geschichten noch nicht aufgeschrieben und erzählt wurden. Die ganze Szene und ihre Akteure waren damals noch weniger transparent.

Ben: Wir haben schon von einigen Zuschauern gehört, dass sie vieles noch nicht wussten und der Film in bestimmten Punkten Licht ins Dunkel bringt. Dr. Dre hat vor kurzem in einem Interview gesagt, dass er es schade findet, dass junge Künstler über Social Media so viel über sich preisgeben. Für ihn bleibe die Mystik, die den Künstler und die Musik umgibt, auf der Strecke. Bei RAG gibt es definitiv viel Mythos, der die Leute bis heute interessiert. Einfach, weil die Zeit nicht so gut dokumentiert wurde und die Band schon verschwunden war, als deutsche Rap-Musik so richtig den Mainstream übernommen hat.

filmemacher

Julian Brimmers und Ben Westermann

Was genau seht ihr an der Biographie von RAG als beispielhaft?

Julian: Stilistisch waren RAG absolut unique, aber ihre Musik hatte schon viel von der Ästhetik, die man heute mit dem Sound des Ruhrgebiets verbindet. Eko Fresh hat in seinen 2020 Bars ja zuletzt gerappt, RAG seien der „Blueprint aller Ruhrpott MCs“. Darüber lässt sich natürlich streiten, es gab ja schon sehr wichtige Gruppen und Rapper aus dem Pott vor RAG, zum Beispiel Raid und Filo Joes. Aber diese lyrische Tiefe und Melancholie hat sicher den damaligen Sound der Region eingefangen und geprägt.

Ben: Außerdem lässt sich an RAG exemplarisch erläutern, was damals mit der ganzen Szene passiert ist. Dass junge Menschen, die aus Spaß an der Freude Musik machen, plötzlich mit Angeboten aus der Industrie überhäuft wurden und dabei einfach viele Missverständnisse entstanden sind. Die Musikindustrie hatte gemerkt, dass da etwas Neues und Spannendes passiert, dass man verkaufen kann. Dass viele der Bands, wie beispielsweise RAG, auf konventionellem Weg nicht unbedingt für die Masse vermarktbar waren, haben die gar nicht verstanden.

Habt ihr wegen des tragischen Elements den Film in drei Akte unterteilt?

Julian: Die Drei-Akt-Struktur hat uns eher geholfen, die Chronologie der Erzählung auch thematisch zu ordnen. Natürlich wollten wir uns gerade im dritten Teil die Zeit nehmen, die es braucht, um die individuellen Lebenswege der Crew-Mitglieder nachzuvollziehen – ganz speziell natürlich den von Galla.

Ben: Genau, wir hätten die drei Akte auch nicht im Bild kenntlich machen und sie quasi nur im Subtext erfahrbar machen können. Aber wir mochten die Unterteilung einfach und haben sie dann drin gelassen.

Julian: Dadurch konnten wir dann auch ein paar der alternativen Filmtitel noch unterbringen, haha.

Wie habt ihr es geschafft, stilistisch die Klippe der Ruhrpott-Klischees zu umschiffen?

Ben: Haben wir? (lacht)

Julian: Wir wollten generell einen klischee-befreiten Film machen. Auch bestimmte HipHop-Klischees wollten wir vermeiden. Der Film und seine Thematik sind schon so HipHop durch und durch, da musste wir nicht auch noch auf beliebige Breakdance-Szenen, jazzy Loops und Tags als Namensangaben zurückgreifen.

Ben: Ich denke aber schon, dass sich die Ruhrpott-Mentalität ganz gut in den Charakteren der Band widerspiegelt. In der Art, wie sie sprechen oder menschlich miteinander umgehen. Dass Aphroe und Galla sich zum Beispiel bei einer Schlägerei kennengelernt und sich danach erst einmal gegenseitig ein Bier spendiert haben, ist für mich schon sehr „Ruhrpott“. Da muss man die Protagonisten dann auch nicht noch vor einer Currywurst-Bude mit Kühlturm im Hintergrund interviewen. Wir wollten natürlich auch etwas Neues machen. Die Bilder im Film, die sich mit der Industrielandschaft auseinandersetzen, haben wir dann auch extra in Winkeln gefilmt, die sie entrückt und aus der Zeit gefallen wirken lassen. Wie ein Labyrinth, in dem man sich verlieren kann.

Kultur aus dem Ruhrgebiet hat oft mit Selbstzweifel und eigentlich unnötig fehlendem Selbstbewusstsein im Vergleich mit anderen Metropolen zu kämpfen. Ist das ein unheilvoller Mechanismus, der auch bei RAG möglicherweise gegriffen haben könnte?

Julian: Als Nicht-Pott’ler können wir uns natürlich nicht anmaßen, das so zu beurteilen. Aber wenn du das so formulierst, klingt das auch nicht unrichtig. Bei den Mitgliedern von RAG, die wir kennenlernen durften, würden wir aber schon sagen, dass sich Selbstbewusstsein und -reflexion die Waage halten.

Ben: Wir haben den Pott vom Niederrhein ja nur am Horizont gesehen. Aber ich weiß, was du meinst. Meinem Eindruck nach gibt es aber schon einen Ruhrpott-Lokalpatriotismus, den ich immer sehr angenehm finde, auch weil er sich nicht so ernst nimmt und immer dieses Augenzwinkern hat.

Wie zieht ihr denn Bezug zum im Gil Scott-Heron Song beschriebenen Fast-Unfall im Detroiter Atomkraftwerk zu Bochum und RAG im Filmtitel „We Almost Lost Bochum“?

Julian: Das ist so ziemlich der einzige Aspekt an der titelstiftenden Referenz, wo wir eigentlich keine große Überschneidung sehen. Uns ging es in erster Linie um die nerdige Musik-Referenz auf diesen wunderschönen Song. Und um die strukturellen Parallelen zwischen Michigan und dem Ruhrgebiet. Es geht um Verlust, um Abnablung und um eine in Teilen gebeutelte Region. Brian Jackson, der den Song mit Gil Scott-Heron ja geschrieben hat, hat uns netterweise auch seinen Segen für den Titel gegeben. Wer schon mal in Detroit war, weiß, dass die berühmte Midwest-Herzlichkeit auch nicht zu weit entfernt ist von der Mentalität im Pott.

Pahel Galla

Pahel und das verstorbene RAG-Mitglied Galla

rag screening

Voraufführung des Films im Autokino Dortmund, beide Fotos: Steffen Korthals

Hat HipHop zwangsläufig immer etwas mit Territorium bzw. Ablösung davon zu tun?

Julian: Das ist schon was dran, glaube ich. Dieses Representen, wo man herkommt hat ja auch immer damit zu tun, dass sich die Welt drumherum eher weniger um die eigene Region kümmert. Das galt Ende der 1970er für die South Bronx und vielleicht auch – auf ganz andere Art – Ende der 1990er für Hamburg-Eimsbüttel oder eben Herne und Bochum-Wattenscheid.

Ben: Die Ablösung von diesem Territorium ist ja auch ein großer Aspekt im Film. Keines der Bandmitglieder lebt mehr im Ruhrgebiet. Alle haben natürlich noch einen Bezug zur Region, sei es durch Familie oder Freunde. Aber es geht auch ganz viel darum, auszubrechen und sich selbst woanders neu finden zu können.

Warum war gerade das Medium Film für euch das Ziel der Träume eigener Produktion?

Ben: Am Anfang war uns ja noch gar nicht klar, dass ein ganzer Film dabei rauskommen wird. Wir haben einfach angefangen und uns step-by-step vorgearbeitet. Aber generell wollten wir versuchen, etwas über RAG im Bewegtbild zu erzählen. Natürlich sind wir beide große Filmfans, weil Film einfach so viele interessante Erzählmöglichkeiten bietet.

Julian: Im Nachhinein muss man sagen, dass sich eine Doku in Spielfilm-Länge wirklich perfekt angeboten hat für die Geschichte, die wir erzählen wollten. Deutlich besser als ein kleines Buch oder ein Radio-Hörspiel.

Welche Lernprozesse gehen mit der Verantwortung eines ersten eigenen Films für euch als Erfahrung einher?

Ben: Dass es eine Menge Arbeit ist, wenn man alles alleine macht. Und gleichzeitig, dass es unglaublich erfüllend ist, die volle Verantwortung aber auch die gestalterische Freiheit zu übernehmen. Wir haben ja alles genau so gemacht, wie wir es wollten. Natürlich gab es Einschränkungen, weil wir nicht unendlich Geld zur Verfügung hatten. Es ist ja immer noch eine Low Budget-Produktion.

Julian: Wir haben unheimlich viel während der Produktion gelernt – nicht nur handwerklich und auf Produktionsseite, sondern auch darüber, wie wir selbst am besten arbeiten. Und natürlich über die psychologische Seite so einer Erzählung. Die Protagonist*innen geben einem einen großen Vertrauensvorschuss, wenn sie dir ihre Geschichte in die Kamera sprechen. Und da muss man sich einfach korrekt verhalten, zuhören und mit dem Material ehrlich aber gewissenhaft umgehen.

Glaubt ihr, dass die restliche RAG-Crew in ihrem jeweiligen Neuanfang glücklich ist?

Julian: Das können natürlich nur die Jungs beantworten. Wir können aber sagen, dass Pahel, Aphroe und Mr. Wiz / Beat Sampraz alle sehr angenehme, kreative und unkonventionelle Typen sind.

Wie schätzt ihr die Wirkung des Films auf die RAG-Mitglieder ein? Gibt es Zuversicht und vielleicht eine Reunion?

Ben: Ich denke schon, dass der Dreh-Prozess etwas bei den Mitgliedern ausgelöst hat. Alleine, dass jemand auf dich zukommt und einen Film über dich und deine Geschichte machen möchte, ist ja schon etwas, was dich dazu bringt, dich mit all dem nochmal auseinanderzusetzen. Wir haben ja über mehrere Jahre verteilt immer wieder Interviews mit der Band geführt. Da entstehen natürlich auch Gespräche, die bei einem straffen Drehplan nicht zustande gekommen wären.

Julian: Es gab ja so etwas wie eine Reunion-Tour zum 20-jährigen Jubiläum von „Unter Tage“. Dass die drei verbliebenen Mitglieder noch mal eine Platte zusammen machen, ist wohl nicht so wahrscheinlich – aber Musik spielt in den Leben aller drei weiterhin eine große Rolle und das wird man sicher auf die eine oder andere Art mitbekommen.

Zu welchen Teilen ist der Film auch vielleicht euer Tribut für den verstorbenen MC Galla?

Julian: Das ist ein ganz wichtiger Aspekt des Films. Galla war ein MC mit einem einzigartigen Stil und, wenn man hört, wie seine Freunde von ihm erzählen, wohl auch einfach ein feiner Kerl. Pahel hat uns mal gesagt, dass Galla den Film gemocht hätte. Das bedeutet uns sehr viel.

Ben: Uns ist während des Drehs auch erst richtig bewusst geworden, welche Verantwortung wir dafür tragen, Gallas Geschichte zu erzählen. Er kann sich selbst nicht mehr äußern und wir müssen sehr behutsam damit umgehen. Deswegen war es uns auch wichtig, dass seine engsten Freunde oder, im Fall von Gurbet Erbulan, seine Partnerin über ihn sprechen und ihn charakterisieren. Darüber hinaus stammt das meiste Archivmaterial von Gallas DV-Tapes. Er führt die Kamera, wir hören seine Stimme aus dem Off. Wir sehen also große Teile des Films durch seine Augen.

Wie geht es mit dem Film-Release weiter, wenn der Kinostart wegen der Corona-Krise im September nicht möglich sein sollte?

Ben: Sollte es im September nicht möglich sein, dass der Film im Kino startet, werden wir alles daran setzen, die Streaming- und DVD/Blu-ray-Veröffentlichung vorzuziehen. Diese sind aufgrund der Filmförderung an gewisse Fristen gekoppelt. Aber aufgrund der Ausnahmesituation ist das alles ein wenig unkomplizierter als sonst.

Julian: Wir gehen im Moment aber stark davon aus, dass wir wie geplant im September unseren offiziellen Kino-Start samt Kino-Tour mit den Leuten gemeinsam feiern können.

Aktuelle Termine „We Almost Lost Bochum”: 13. August: Kamp-Flimmern, Münster. In Kooperation mit Mindjazz Pictures kommt der Film am 10. September 2020 in die deutschen Kinos. Dazu beginnt am 1. September in Berlin eine ausgedehnte Kino-Tour. Alle Termine finden sich hier. Weitere Infos zum Film hier.

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