»Visitez ma tente!«Porträts von Orten künstlerischen Schaffens
31.10.2018 • Kultur – Interview: Susann Massute, Fotos: Stephanie NeumannDie Berliner Fotografin Stephanie Neumann besucht Künstler/innen in ihrem „Zelt“ – Ateliers, Studios, Werkstätten und Küchen – überall dort, wo künstlerische Produktion stattfindet. Ihr Projekt „visitmytent“ schaut hinter die Kulissen kreativen Schaffens. Ein Gespräch über Chaos, Ordnung und große Staubsauger.
Was war der Anlass für dich, visitmytent zu beginnen?
Es fing damit an, dass ein Freund und ich Künstler/innen in ihren Studios besucht haben, die wir kannten, interessant fanden oder bei denen wir neugierig waren, wie überhaupt ihr Werk entsteht. Normalerweise sieht man ja nur das fertige Ergebnis in Galerien oder Museen – Akt der Kreation und Kontext bleiben in der Regel verborgen. Die Akteure selbst nehmen diese Faktoren sicher wahr, doch außerhalb des engen Kreises fehlt meist die Möglichkeit, Prozesse einzusehen und in Bezug zu setzen. Ich möchte mit visitmytent Einblick in den Entstehungsprozess geben und dadurch alternative Zugänge zu Kunst schaffen. Das funktioniert für mich am besten an den Orten der künstlerischen Produktion, an denen sich Ideen und Werke entwickeln.
Woher kommt der Name, warum besuchst du ein „Zelt“?
Es wird erzählt, dass französische Soldaten Anfang des 19. Jahrhunderts im Rheinland die Frauen mit „Visitez ma tente!“ in ihre Zelte eingeladen haben. Den jungen Frauen wurde dann beim Ausgehen von ihren Eltern ein „Aber keine Fisimatenten!“ mit auf den Weg gegeben. Allerdings soll der etymologische Ursprung wohl schon im 15. Jahrhundert liegen. Um Künstler/innen in ihrer natürlichen Umgebung zu porträtieren, besuche ich ihr Zelt, wo und in welcher Form auch immer es gerade aufgeschlagen ist.
Wie bist du zu der Auswahl der Künstler und Künstlerinnen gekommen?
Beim Besuch eines Studios werden mir häufig weitere interessante Künstler/innen vorgestellt oder empfohlen. Eine inspirierende Arbeit auf einer Ausstellung kann ebenfalls Startpunkt sein oder eine Arbeitsweise, die sich beim Betrachten des Werkes nicht erschließt. Zum Teil schreiben auch Künstler/innen und laden in ihr Studio ein. Es gibt da keine Liste mit Namen, die abgearbeitet wird, das ergibt sich eher organisch. In der Anfangszeit gab es einen Punkt, an dem ich festgestellt hab, dass mir häufig eher männliche Künstler vorgestellt oder empfohlen wurden. Da hab ich dann angefangen, gezielt gegenzusteuern und verstärkt Künstlerinnen angefragt und besucht. Es geht mir ja nicht darum, existierende Missverhältnisse in der Kunstwelt abzubilden, sondern ein ausgeglicheneres Verhältnis zu fördern.
Welche Begegnungen sind dir besonders in Erinnerung geblieben?
Unerwartetes bleibt stark in Erinnerung. Ein pulsierender Plattenbau inmitten einer Brache, herumfliegende Glasstücke in der Werkstatt, nächtliche Bandproben, anregende Gespräche bei gemeinsamem Kaffee frühmorgendlich in der Küche, verblüffende Arbeitsweisen. Geplant nur kurz vorbeizuschauen, und dann den ganzen Tag in einer anderen Welt verbracht. Es sind weniger einzelne Personen oder Studios, die herausstechen, vielmehr ergibt sich eine facettenreiche Sammlung an Eindrücken und Erinnerungsschnipseln aus all den Begegnungen.
Gibt es immer einen sichtbaren Zusammenhang zwischen Werk, Person und Studio?
Häufig, ja. Vieles greift dann ineinander und ergibt total Sinn. Es fällt auch auf, wenn jemand nicht an einen Ort gehört, beziehungsweise diesen Ort nicht selbst gestaltet hat, weil die Umgebung so gar nicht mit dem Auftreten der Person korreliert. Und im Gespräch zeigt sich dann, dass sie an dem Ort nur vorübergehend, zu Gast oder zur Zwischenmiete ist und nur bestimmte Objekte mit sich führt, die essentiell sind.
„Es fällt auch auf, wenn jemand nicht an einen Ort gehört, beziehungsweise diesen Ort nicht selbst gestaltet hat, weil die Umgebung so gar nicht mit dem Auftreten der Person korreliert.“
Der Boden als Zeuge der Arbeit
Gibt es etwas, das allen Künstler/innen gemein ist, etwas, das man in jedem Atelier findet?
Der Boden als Zeuge der Arbeit, die jeweiligen Werkzeuge und entstehende Werke. Ein großer Staubsauger. Hier wird gedacht, entworfen, verworfen, transformiert. Das Studio ist der Ort eines Werkes vor seiner Veröffentlichung – ein sehr intimer Ort.
Was hast du über künstlerische Entstehungsprozesse gelernt?
Es gibt Dinge, die zu erwarten sind – dass beispielsweise jede Künstlerin und jeder Künstler seine eigenen Prozesse hat, die das entstehende Werk bedingen und ausmachen. Überraschend und interessant ist dann, wie das konkret aussieht. Eine Person braucht wechselnde Arbeitsorte zur Inspiration, einer ruft Leute an, weil er am besten malen kann, wenn er telefoniert, einer verwertet alles bei der Arbeit Abfallende weiter. Eine Person arbeitet an einer Arbeit von Anfang bis Ende, eine andere an mehreren gleichzeitig. Einer täglich kontinuierlich, eine nur bei Deadlines, und wieder ein anderer hauptsächlich nachts. Auch der Punkt, an dem etwas fertig ist, zeigt sich für jede/n anders – für den einen sind es akzeptierte Zwischenzustände, für die andere Arbeiten, denen nichts mehr hinzuzufügen ist.
Was ist deiner Meinung nach, und nachdem du um die 60 Künstler/innen porträtiert hast, wichtiger für künstlerisches Arbeiten: Chaos oder Ordnung?
Das ist abhängig von der jeweiligen Person und ihrer Arbeit – jede braucht ihre eigenen Settings, was die Arbeitsumgebung angeht, um zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen. Barbara Morgenstern, zum Beispiel, erzählte mir, dass ein gewisses Grundrauschen und Chaos dringende Voraussetzung für ihre Produktivität ist. Ohne das bräuchte sie gar nicht anzufangen. Ein befreundeter Künstler, der einmal zu Besuch war, um in ihrem Studio zu arbeiten, sei davon wiederum komplett irritiert gewesen. Er bräuchte Klarheit, um arbeiten zu können, auch räumlich.
Was ist dir neben den Fotos wichtig?
Vielfalt zu zeigen und unterschiedliche Positionen. Erfahren, was eine/n antreibt. Wie der Ort das Werk beeinflusst. Was es braucht für den eigenen Kreationsprozess. Es geht auch darum, Orte zu entdecken – Wann bin ich schon mal in einer Glasbläserei in Reinickendorf oder einer Marmorwerkstatt in Florenz?
Wie eitel sind Künstler/innen?
Unterschiedlich, wie in anderen Berufsgruppen auch. In den Begegnungen, die ich bis jetzt hatte, kam Eitelkeit weniger zum Tragen. Eher viel Offenheit, auch in Bezug auf Zweifel oder Krisen. Da bin ich schon sehr dankbar, dass mir so viel Vertrauen entgegengebracht wird.
Welche Rolle spielt Berlin?
Als Geburtsstadt für mich persönlich eine nicht ganz unwesentliche und als Startpunkt für visitmytent ist Berlin als Magnet für Kunst- und Kreativschaffende natürlich ideal.
Wann ist visitmytent abgeschlossen?
Ich denke mal, dass eine Langzeitgeschichte wie diese eher transformiert als endet. Es beginnt als Fotostrecke mit Kurzinterview, wird zu einer Web-Plattform, um Informationsvisualisierungen erweitert und mündet womöglich in einem Forschungsprojekt mit Publikation oder Ausstellung – wer weiß.
visitmytent wurde 2017 gegründet. Porträtiert wurden bisher unter anderem Christian Achenbach, Clemens Behr, Bram Braam, Carla Chan, Paul Frick, Jay Gard, Caroline Kryzecki, Jeewi Lee, Barbara Morgenstern, Jan Muche, Manfred Peckl, Kitty Solaris und Sinta Werner.