Auch weiterhin informieren wir euch an dieser Stelle regelmäßig über ausgewählte Episoden des Telekom Electronic Beats Podcasts – immer pünktlich zum Veröffentlichungsdatum der jeweils neuen Ausgabe. Nach einer kurzen Sommerpause meldet sich die Interview-Reihe von Gesine Kühne und Jakob Thoene nun zurück, und zwar mit einer Doppelfolge. Da ist einerseits die Fotografin Katja Ruge (unbedingt anhören) und andererseits Chilly Gonzales – auch unbedingt anhören. Der Werdegang des Kanadiers ist beeindruckend und vielfältig. Heute kennt man ihn vor allem im Morgenmantel und in Schlappen am Klavier, als exaltierten und eigenbrötlerischen Künstler. Angefangen hat er als Rapper. Er nennt sich gerne Maestro. Der Grammy, den er für seine Zusammenarbeit mit Daft Punk bekam, steht in seinem Badezimmer. Er hält den Guiness-Weltrekord für 27 Stunden Klavierspielen am Stück. Drake ist ein Kumpel. Und er hat eine Musikschule gegründet, bei der es gar nicht vorrangig um Musik geht. Da darf man schon ein bisschen verschroben sein. Doch: All das ist nur Fassade. Denn Chilly Gonzales ist eine Kunstfigur, die sich der Pianist und HipHop-Fanatiker Jason Beck erschaffen hat, um in aller Ruhe das tun zu können, was ihn umtreibt. Gesine Kühn hat ihn in seiner Wahlheimat Köln besucht und hat für die Podcast-Reihe ein langes, tief blickendes Interview mitgebracht. Natürlich mit einem Klavier in Reichweite.
Städte verändern einen nicht. Du selbst veränderst die Stadt. Chilly Gonzales hatte das bereits gelernt, bevor er seine kanadische Heimat Toronto gen Berlin verlassen hatte. Ganz egal wie groß die Szene auch ist, irgendwann kocht sie gemütlich im eigenen Saft und braucht die disruptive Energie von Menschen, die von außen neu dazustoßen. So war es auch 1999, als er in der deutschen Hauptstadt eintraf und zusammen mit Peaches, Mocky oder Feist den Berliner*innen den kanadischen Spiegel vorhielt. „Als Außenstehender habe ich einen frischen Blick auf die Stadt, ich kann sie so viel besser verändern“, sagt Jason Beck, der – natürlich – irgendwann wieder seine Koffer packte, nach Paris umsiedelte und mittlerweile seit einigen Jahren in Köln lebt. Wie lange er dort bleiben wird, weiß er nicht – vielleicht für immer. „Letztlich geht es um die Menschen, die man trifft und die Beziehungen, die man mit ihnen aufbaut.“ Und natürlich darum, was man daraus macht. Die Berliner Zeit hat Gonzales sehr geprägt, prallten hier doch zwei ganz unterschiedliche Herangehensweisen an die Kunst aufeinander. Das typische Berliner Schluffitum, der Glaube an das eigene Werk ohne Kompromisse einerseits und die Karriere-getriebene Strategie aus Nordamerika andererseits. Dass man beides miteinander verbinden kann, lernte der Musiker in der deutschen Hauptstadt. Aufgegeben hat er diese Prämisse nie wieder. Immerhin hat er in Berlin seinen Künstlernamen Chilly Gonzales ge- und erfunden.
Dass man ihn heute unter diesem Namen vor allem als den „Mann am Klavier kennt“, ist zwar kein Zufall, hätte aber auch anders kommen können. Seine ersten Gehversuche an der Klaviatur machte er schon als Dreijähriger. Es sollte aber noch etwa zehn Jahre dauern, bis er als Teeanger ganz bewusst beschloss, das Instrument wirklich zu erlernen. Er wusste, dass er daraus seinen Beruf machen würde, ging nicht mit den anderen Jugendlichen nach draußen, sondern verschwand im Keller und übte. „Ich versteckte mich. Das Klavier beschützte mich, zeichnete aber auch meinen Weg. Ich wollte das.“ Doch in Berlin angekommen, spielte er nicht mehr. Er hatte schlicht kein Instrument zu Hand, es wäre aber auch nicht angemessen gewesen. Er interessierte sich viel mehr für Performance und künstlerische Provokation: „Da war meine musikalische Ausbildung nicht gefragt“.
Es ist genau dieses stete Hinterfragen der eigenen künstlerischen Persona, welches Chilly Gonzales in den vergangenen 20 Jahren zu einer der herausragendsten Persönlichkeiten der popkulturellen Schräglage gemacht hat. Egal ob mit seinen frühen Platten auf Kitty-Yo – zwischen den Beats und Vocals von Feist, Peaches, Bomb 20 und Patrick Catani –, seinem Input für Daft Punk, dem wunderbar zwischen Spoken Word und Songwriting changierenden Album mit Jarvis Cocker oder eben seinen Solo-Piano-Platten: Der musikalische Teufel steckt bei Chilly Gonzales immer im unerwarteten Detail. Oder in der Darbietung. Am Klavier trägt er Morgenmantel und Schlappen – auch in den Konzerthäusern und Philharmonien dieser Welt. „Ich mache das ganz bewusst. Eine Philharmonie ist keine Kirche. Ich übertreibe gerne und konfrontiere das Publikum damit." Chilly Gonzales ist Jason Becks Obsession.
Und diese Obsession – das Künstlerdasein – lebt er als Entertainer aus: zum Beispiel mit Standards der Klassik, des Jazz und des Pops als Eingangstür zu seiner ganz eigenen Welt. Gonzales dekonstruiert und adaptiert, zeigt bei seinen Konzerten immer wieder, wie Musik wirklich eine globale Sprache ist, deren Zutaten sich durch die Geschichte hinweg immer wieder verfeinert und auf neue Grundvoraussetzungen eingestellt haben: Auch am Klavier kann man Remixe und Mash-ups machen, dafür braucht es keinen Laptop. Aktuelle Popmusik als Genre hingegen interessiert ihn nicht sonderlich – für ihn ist sie lediglich ein Tool, um sich und seinen Kosmos begreifbar zu machen. „Ich denke ohnehin nicht wirklich in Genres. Es gibt Musik, die mich einfach nicht reizt. Wenn zu laut gesungen oder gerappt wird zum Beispiel. Oder Musik, bei der man spürt, das die Musiker nicht wirklich Spaß hatten. Das findet man überall.“ Dass Gonzales selbst viele Jahre vor allem gerappt hat, kann man sich bei seinem heutigen Output kaum noch vorstellen. Aber genau das ist der Knackpunkt, um der Figur Chilly Gonzales auf den Grund gehen zu können. Er ist ein Mensch und Musiker, der durch Phasen geht, seine Zelte an einem Ort genauso schnell abbrechen wie eine musikalische Ausdrucksform auf Eis legen oder gleich ganz beerdigen kann, wenn sich die persönlichen Umstände ändern und ein anderes Ventil erzwingen. Ganz der Künstler, der immer über sich selbst brütet – allein oder mit anderen –, und die Ergebnisse dann als Entertainer auf der Bühne vor dem Publikum auskippt und die Musik für sich selbst sprechen lässt. „Meine Musik ist berühmter als ich. Und das ist wundervoll.“
Wie man diesen Twist lernen und hinbekommen kann, steht im Zentrum von Gonzales’ neuestem Projekt, dem „Gonzervatory“ – einer Musikschule, die eigentlich gar keine Musikschule ist. Denn hier geht es weniger die Musik als solche und vielmehr darum, wie man sich als Künstler besser und überzeugender präsentieren kann. Genau um die Persona also, die sich Jason Beck als Chilly Gonzales Abend für Abend überwirft und die sitzt wie ein Maßanzug. Was die Musik betrifft, sollen die Teilnehmer*innen lieber von sich selbst lernen. Das Gonzervatory stellt die Performance in den Mittelpunkt, den Ursprung der Musik, zu dem sie aktuell auch mehr und mehr zurückkehrt, nicht zuletzt auch deshalb, weil man mit Platten kein Geld mehr verdient. „Das bietet so niemand an. Es gibt beziehungsweise gab die Red Bull Music Academy für Produzenten, es gibt die richtigen Konservatorien für die klassische Ausbildung und es gibt Business-Kurse. Aber wie man seine eigene Präsenz auf der Bühne noch besser gestalten kann und damit auch die Musik zu etwas wirklich Kraftvollem macht: Das kann man sonst nirgendwo lernen.“ Ende Oktober 2019 geht das Gonzervatory in die zweite Runde – 500 Bewerbungen gab es, sechs Teilnehmer*innen wurden ausgesucht. Unterstützung für das zehntägige Programm holt sich Gonzales bei Musiker*innen, die er nicht nur schätzt, sondern von denen er selbst viel gelernt hat.
Natürlich sprechen Gesine Kühne und Chilly Gonzales noch über viel mehr – alles verraten wollen wir an dieser Stelle natürlich nicht. In den rund 70 intensiven Interview-Minuten schält sich Schritt für Schritt das Bild eines Künstlers heraus, dessen Sicht auf die Dinge eine große Bereicherung sind – nicht nur verpackt in Musik.