Wie versprochen informieren wir euch an dieser Stelle regelmäßig über ausgewählte Episoden des Telekom Electronic Beats Podcasts – immer pünktlich zum Veröffentlichungsdatum der jeweils neuen Ausgabe. In den über 30 Folgen der Interview-Reihe hat sich dank der Moderator*innen Gesine Kühne und Jakob Thoene ein vielstimmiges Bild der Clubkultur entwickelt. In der aktuellen Ausgabe ist Richie Hawtin zu Gast. Aufgezeichnet vor Publikum – und in englisch – erzählt der Plastikman nicht nur über die Vergangenheit in Detroit, sondern vor allem darüber, wie er sich die Zukunft vorstellt. Und stellt sich auch den Fragen des Publikums.
Man bildet sich ja ein, als Techno-Fan der alten Schule würde man schon längst alles wissen über Detroit. Das stimmt natürlich nicht, und es braucht keinen geringeren als Richie Hawtin, als einen genau daran zu erinnern. Auch seine Geschichte mit und in Detroit ist gut dokumentiert. Aber: Das eine oder andere Interview liefert dann doch noch neue Details – gerade zu Aspekten, die man gar nicht auf dem Zettel hatte. Nicht nur deshalb ist die neue Folge des Telekom Electronic Beats Podcast eine absolute Hörempfehlung. Im Gespräch mit Gesine Kühne gibt der Produzent, Label-Betreiber, DJ und Sake-Connaisseur offen und ehrlich Auskunft. Über das, was ihn nach rund 30 aktiven Jahren Techno immer noch umtreibt – in der Musik, in der Club-Kultur und dem technologischen Fortschritt. Denn diese drei Stichworte bilden die Fixpunkte im Kosmos des streitbaren Künstlers. Dass aus ihm einmal ein Weltstar werden würde, ahnte er damals – Ender der 1980er-Jahre – am allerwenigsten. 1979 zog er mit seiner Familie aus Großbritannien nach Kanada – genauer gesagt nach Windsor, dieser kleinen Stadt, die nur einen Steinwurf von Detroit entfernt liegt. Zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Dort das Chaos, das Verbrechen, die verfallene Downtown, die Musik – hier die Kleinstadt-Idylle. Dort Kevin Saunderson, Derrick May und Juan Atkins – hier Richie Hawtin. Und doch waren sich beide Städte viel näher als heute – eine Tatsache, auf die man einfach nicht kommt, wenn man dort nicht lebt. „Es war eine gute Zeit, denn die Grenze war keine Grenze. Es ging nicht um Nationalitäten, man brauchte nur einen Führerschein, um die Seiten zu wechseln. Die Grenze kam erst nach 9/11. Ich bin dankbar dafür, in dieser Zeit dort gewesen zu sein. Sonst hätte ich das alles nicht so erlebt.“
So wechselte Hawtin gemeinsam mit seinem Bruder regelmäßig die Seiten, tauchte ein in die verschworene Techno-Szene Detroits, tanzte im „Music Institute“ und in der „Shelter“, war hartnäckig, hing bei Derrick May im Studio rum und legte schließlich selber auf. Er liebte New Wave, New Order, Nitzer Ebb und Front 242 – die Sound-Entwürfe aus Detroit waren der nächste logische Schritt. Für ihn selbst änderte sich dabei wenig: In der Schule war er mit seinem Musikgeschmack und seiner schüchternen Art immer der weirdo und in Detroit einfach der (zumindest zu Beginn) annoying white guy. In Kanada spielten seine Freunde in Bands oder Theater, Hawtin half höchstens dabei, die Kulissen aufzubauen. Er war keine Rampensau – kaum vorstellbar heute. Doch die elektronische Musik zeigte ihm erstmals, dass man alles auch allein machen konnte und dabei nicht einmal im Rampenlicht stehen musste: „I never thought I could entertain people“. So kann man sich täuschen.
Auflegen und Produzieren – das sind zwei Dinge, die Hawtin praktisch von Anfang an zusammen dachte, bzw. nicht voneinander trennen konnte oder wollte. Und je besser die technischen Möglichkeiten wurden, desto mehr widmete er sich genau dieser Schnittstelle. Ob als Plastikman oder F.U.S.E.: Alles musste immer wieder erst zerstört und dann neu miteinander kontextualisiert werden. Wirklich ernst machte er damit erstmals Ende der 1990er-Jahre mit „DE9“, als er eigene und die Musik anderer Künstler*innen mit Effektgeräten und Drum Computern in ein Gesamtkunstwerk verwandelte, das weit mehr war als ein DJ-Mix. Schon damals ging es Hawtin auch um einen Wissenstransfer. Wie entsteht diese Musik? Was machen diese „DJs“ da vorne auf der Bühne eigentlich? Mit der nächsten großen Reihe von Live-Shows – „CLOSE“ – konnte er den direkten Austausch mit dem Publikum dann wirklich umsetzen. Mit fertigen Tracks, Loops, Effekten und modularen Synths. Und einem neuen Bühnenkonzept. Hawtin steht nicht hinter den Geräten, sondern dazwischen, wie ein alter Rock-Keyboarder, das Publikum hat freien Blick auf das, was passiert.
„Die Sets sind nicht geplant, alles entsteht im Moment. Es geht um den Austausch mit dem Publikum. Das ist für mich echtes DJing. Das Gefühl des Clubs auch für größere Bühnen umzusetzen. Und das ist jedes Mal anders. Die Loops, die Sounds, die Basslines: All das entsteht zusammen mit dem Publikum. Ein guter DJ muss so spontan sein, wie es nur irgendwie geht.“ Dabei hilft ihm zum Beispiel der „Model 1“-Mixer, den er selber mit entwickelt hat. Aber all das ist nur Hawtins Weg. Einen guten DJ kann vieles ausmachen, sagt er, das hat er selbst erlebt: „Wer zwei Platten perfekt ineinander mixt. Oder einfach die zwei richtigen Platten im richtigen Moment spielt. Ich versuche nur das zu tun, was ich fühle. Wenn ich mich erinnere, was Derrick May und Jeff Mills damals mit nur zwei Platten und einem EQ gemacht haben: Sie haben die Tracks förmlich zerrissen. Höhen raus, Mitten raus, und kurz vor dem Vocal kam schon das nächste Stück rein. Das sind die Momente, die ich erinnere und die ich versuche, wiederaufleben zu lassen.“
Der nächste Schritt auf diesem Weg ist die im September erscheinende App „CLOSER“. Entwickelt gemeinsam mit Telekom Electronic Beats, können Fans in der App Shows von Hawtin herunterladen und aus unterschiedlichen Perspektiven anschauen, einen genauen Blick auf die Gerätschaften erhaschen und die unterschiedlichen Maschinen sogar isolieren und sich ganz auf ihren Klang konzentrieren. Aber das ist nur der erste Schritt. Hawtin denkt schon weiter und koppelt seine Vision erneut an den technischen Fortschritt: „Wenn die Datenverbindungen noch schneller werden, könnten auch Menschen im Publikum schon während der Show über die App interagieren – in Echtzeit.“
Den technologischen Status Quo hat Richie Hawtin während seiner Karriere immer wieder hinterfragt. Er war einer der ersten, der das Vinyl durch andere Medien ersetzte, mit dem Laptop auflegte und seinem Setup immer neue Komponenten hinzufügte. Dass das Streaming beim DJing ein nächster Schritt sein könnte, ist für ihn klar, doch nicht so, wie man es erwarten würde. Hawtin sieht eine Welt, in der das Streaming nicht den USB-Stick ersetzt, sondern noch mehr neue Möglichkeiten bietet. Warum sich denn nicht live in einen Studio-Jam von Künstler*innen einschalten und den in das Set einbauen. Fertige Tracks zu streamen, ist zu kurz gedacht.
Denn für Hawtin ist die technische Weiterentwicklung kein reiner Selbstzweck: Für ihn hängt die Zukunft der Club-Kultur davon ab. „Das ist big business, Teil der Unterhaltungs-Industrie“, sagt er. „Gerade deshalb müssen wir darüber sprechen, wie es weitergeht. Techno ist technologiebasierte Musik. Es geht um die Musik das dürfen wir nie vergessen. Das muss der Fokus sein und bleiben, und ich möchte gerne Teil dieser Debatte sein.“
Und das ist dann wohl Richie Hawtin in a nutshell. Zurückblicken auf die guten alten Zeiten wollte er nie, im Gegenteil: Es geht ihm vielmehr darum, die gute Ideen von früher fit zu machen für die Zukunft und dabei nicht in Nostalgie zu versinken. Dass er sich mit dieser Haltung nicht nur Freunde macht, ist genauso klar, wie die Tatsache, dass er Kritik nicht nur annimmt, sondern auch passende Antworten parat hat. Das spürt man immer wieder in diesem Podcast.