„Wir kriegen euch alle“Dokumentation: „Hamburger Gitter“ über die Gewalt beim G20-Gipfel und ihre Folgen

Über den größten Polizeieinsatz in der deutschen Nachkriegsgeschichte und warum er einen Wendepunkt markiert.

„Polizeigewalt hat es nicht gegeben“, resümierte der seinerzeit regierende Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, Olaf Scholz, mittlerweile Bundesfinanzminister und Anwärter auf den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Einem auf Staatsmacht gestreamlinten Politiker wie diesem kann man mit Fakten, Statements, Einschätzungen und Analysen, die ein ganz anderes Ergebnis zeigen, vermutlich nur schwer beikommen. Aber vielleicht schaut sich ja der eine oder andere unbescholtene Bürger, der in den Mainstream-Medien des Landes vor allem von der Gewalt „der Autonomen“ las, diesen nun frei verfügbaren Film an.

„Hamburger Gitter“ zeichnet nicht nur die Geschehnisse im Juli 2017 nach, sondern geht darüber hinaus auch der Frage nach, ob und inwiefern die Polizeiarbeit – mit über 30.000 Polizisten war es der größte Einsatz seit Gründung der Bundesrepublik – in dieser Form der Durchführung einen Wendepunkt darstellt. Ist Deutschland auf dem Weg zum Überwachungsstaat, der basale Freiheitsrechte wie Demonstration aushebelt und die mediale Begleitung und Einordnung dessen zu verhindern versucht? Anhand der Rückblicke der für die Dokumentation gewonnenen Interviewpartner fällt das Bild einigermaßen klar aus: Ja, es hat eine neue Qualität, was in Hamburg geschehen ist und was in seiner Folge immer noch geschieht, Tausende von Ermittlungen und Verfahren gegen Demonstranten gehen weiter, demgegenüber stehen nur sehr wenige gegen Einsatzkräfte. Zu Wort kommen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen (unter anderem ein sehr reflektierter und überraschend kritischer Rafael Behr, immerhin ist er Professor für Polizeiwissenschaften am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg), Journalist*innen (u.a. Heribert Prantl), Jurist*innen und Politiker*innen.

Trotz eines recht vielschichtigen Blicks auf die Anwendung von staatlicher Gewalt, auf Kontrolle und Protestbeschränkung fehlen der Dokumentation zwei wichtige Dinge: Erstens eine Analyse dessen, was sich speziell in der so genannten „Krawallnacht“ im Schanzenviertel ereignet hat, es beschränkt sich auf eine kurze Sequenz. Das ist schade, wurde im Nachhinein doch vor allem von diesem G20-Detail berichtet. Und zweitens die Gegenrede. Allein der Sprecher der Polizei wird nicht müde, vom Erfolg der Maßnahme zu sprechen, hätte es sonst möglicherweise Tote gegeben. Das Filmkollektiv leftvision habe sich, so schrieb die taz, bemüht, mehr Gegenstimmen zu bekommen – was wohl erfolglos blieb. Ein differenziertes, individuelles Statement von Polizist*innen widerspricht dem Staatsapparat Polizei, die viele, so klingt es in der Doku an, immer noch nur als Freund und Helfer kennen, welche sich aber zunehmend aufrüstet. Fast reicht es, sich die Dienstkleidung aus alten Folgen der Hamburger Serie „Großstadtrevier“ anzuschauen und wie Polizist*innen sich heute bekleiden und ausrüsten müssen, um dieser Tendenz zur Militarisierung zuzustimmen. Dass etwas aus den Fugen geraten ist und sich auf zukünftige Großlagen massiv auswirken dürfte, führt uns „Hamburger Gitter“ vor Augen.

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