Plattenkritik: Minhwi Lee – Hometown to Come/미래 의 고향 (만수청)Detailverliebte und perfektionistische Entschleunigung

Minhwi Lee Hometown to Come

Dass aus dem Land des durchdesignten K-Pop und global erfolgreichem Hightech auch wundersam ruhige Töne kommen können, beweist die südkoreanische Künstlerin Minhwi Lee mit ihrem zweiten Album „Hometown to Come“. Ein zurückhaltendes und schüchternes Meisterwerk von flüchtiger und schwer zu greifender Größe.

„Hometown to Come“ ist das zweite Album der koreanischen Singer-Songwriterin Minwhi Lee. Ihr 2016er-Debüt „Borrowed Tongue“ wurde im letzten Jahr vom Label Alien Transistor wieder aufgelegt und sorgte somit auch in hiesigen Kreisen für gewisse Aufmerksamkeit. Minwhi Lee studierte Musikwissenschaften in Seoul, Filmkomposition in Paris und New York und klassische Musik. Sie begann ihre Karriere 2012 in dem akustischen Punkduo Mukimukimanmansu und komponierte Soundtracks für Filme und TV-Serien für Regisseure wie Jeong-Won Kam und Sang-Moon Lee. Man könnte sagen Minhwi Lee kennt Musik und ihre Facetten im holistischen Ansatz. Das kann im Negativen zu Besserwisser- und Muckertum führen, in ihrem Fall kommen aber Feingeist, Eleganz und Belesenheit zum Vorschein – in vielen Belangen berührend und anmutig. „Hometown to Come“, das im Original „미래 의 고향“ heißt, könnte man auch mit Heimat der Zukunft übersetzen. Die acht Songs mit 32 Minuten Spiellänge verfliegen nahezu. Zarte Folk-Songs mit filmischen Arrangements, die das große Hollywood Mitte des 20. Jahrhunderts referieren und zugleich aufgeräumt, modern und fokussiert sind.

Die Künstlerin spielt auf ihrem Album Gitarre, Perkussion, Mellotron, Keyboards und Schlagzeug und hat zudem die Streicher und Bläser orchestriert und arrangiert. Das ist in Zeiten, in denen heute oft ein Dutzend Menschen aus drei Kontinenten an einem Song schreiben und texten, beeindruckend und ermutigend zugleich. Es gibt sie also noch – Musiker:innen, die Musik als Gesamtwerk verstehen und als Individuum auch ausdrücken können und ihr eine Stimme geben. Mein Streaming-Anbieter zeigt mir das Album als K-Pop an, dabei hat es mit dem heutigen industriellen K-Pop nichts zu tun. Es führt eine Tradition des koreanischen Folks weiter, der in den 60ern und 70ern auch als Protest- und Bürgerrechtsmusik für die Studierenden in Südkorea identitiätsstiftend gewesen ist. Es agitiert aber nicht, es lässt vielmehr schwelgen, tagträumen, driften und auditive Schönheit empfinden. Vor 20 Jahren hätte man zu solchen Sounds vielleicht auch Chamber Pop oder Easy Listening gesagt. Das trifft es aber nicht ganz. Minhwi Lee benutzt retrospektive Sounds nicht als Effekt oder stilistischen Schuhkarton. Ihre Musik ist, wie der Albumtitel sagt, ein nach vorne gerichtetes nach Hause kommen. Eine Rückbesinnung auf innere Werte und eine Rückgewinnung reflektierter Haltung. Gerade im Kontext des hypereffizienten und digitalen K-Pop, der heute global erfolgreich ist und dem ultraschnellen und stroboskopischen Kapitalismus in ihrem Heimatland, ist es eine Art stiller Protest. Ein Statement, das zeigt, wie wichtig bei allem Fortschritt und Wachstum die Menschen und das Menschliche sind. Letztlich bleibt es losgelöst davon ein unfassbar wunderschönes Album in annähernder Perfektion.

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