„Rave war meine Idee“Oral History: Jean-Michel Jarre über die Geschichte der elektronischen Musik

jean michel jarre oral history

Foto: Herve Lassince

Warum Avantgarde keine Lösung ist und wir neue Superhelden brauchen. Jean-Michel Jarre über seine 40 aktiven Jahre als Musiker.

Jean-Michel Jarre ist einer der ganz großen Pioniere der elektronischen Musik. Dabei ist das Werk des 68-jährigen Franzosen durchaus streitbar: Für viele sind seine großen Erfolge wie „Oxygene“ oder „Equinoxe“ wenig mehr als esoterische Pop-Entwürfe, seine gigantomanischen Live-Shows reine Effekthascherei. Dem Erfolg tat diese Kritik keinen Abbruch, im Gegenteil. Jarre war der erste westliche Künstler, der nach Maos Tod in China Konzerte geben durfte. Er spielte für den Papst, für die NASA, vor den Pyramiden in Ägypten und verwandelte mit seinen gigantischen Produktionen die urbanen Kulissen von Paris, London oder Hongkong in bunt schillernde Installationen, in denen seine Musik noch besser wirken konnte. Jarre buchstabiert man S-U-P-E-R-L-A-T-I-V-E. Welcher andere Künstler kann schon von sich behaupten, dass weit über eine Million Zuschauer sein allererstes Konzert sahen? Jean-Michel Jarre hat in seiner Karriere bislang über 80 Millionen Platten verkauft. Einige davon wurden zu Klassikern, andere hat man zu Recht längst wieder vergessen.
Mitte der 1980er-Jahre, nach den Alben „Oxygene“, „Equinoxe“ und „Les Chants Magnétiques“, gibt es den ersten Bruch in Jarres musikalischer Entwicklung. Vorbei ist die Zeit der eingängigen Melodien, er wechselt vom Analogen ins Digitale, experimentiert mit Sampling, lässt sich von der New Yorker Breakdance-Kultur inspirieren und nimmt mit „Zoolook“ seine vielleicht wichtigste, weil einflussreichste Platte auf. Dann verschwindet der Schüler von Pierre Schaeffer, dem Erfinder der „Musique Concrète“, in der Flut der die Charts bestimmenden elektronischen Musik. Seine Entwürfe sind nicht mehr gefragt, eine neue Generation hat ihn überholt. Da helfen auch keine Neuauflagen und Remixe alter Gassenhauer. Aufgegeben oder aufgehört hat Jarre aber nie.

2007 nimmt er sein erstes Album „Oxygene“ neu auf, originalgetreu und ohne fette Dancefloor-Beats. Jarre wird zum Lehrer für elektronische Musik. Er schleppt sein Synthesizer-Museum auf kleinere Bühnen in kleinere Hallen, spielt zwar immer noch seine alten Hits, ist dabei aber glaubhaft, echt und hat es nicht nötig, sich bei einem jüngeren Publikum anzubiedern.
2015 veröffentlicht er „Electronica 1 – The Time Machine“, eine Sammlung von 16 Stücken, die alle gemeinsam mit anderen Musikern entstanden sind. Von Boyz Noize bis Air, von Vince Clark bis Massive Attack. Jarre meint das ernst, besucht sämtliche Musiker in ihren Studios, nimmt sich Zeit, ist auf Augenhöhe mit Künstlern, von denen ihm viele vielleicht argwöhnisch gegenüber stehen. Nun erscheint der zweite Teil des Electronica-Projekts. „The Heart Of Noise“ – inspiriert vom Manifest des umstrittenen italienischen Futuristen Luigi Russolo „The Art Of Noises“ von 1913 – ist der bessere Teil des Projekts. Mit dem französischen Shooting-Star Rone, dem Berliner Siriusmo, den Pet Shop Boys, Yello, Jeff Mills, The Orb, Julia Holter, Peaches und einer skurrilen Sampling-Orgie mit Edward Snowden gelingt Jarre genau wie beim ersten Teil zwar kein kohärentes Album, die Platte zeigt jedoch mehr denn je, dass mit ihm immer noch zu rechnen ist.
Der folgende Text ist eine O-Ton-Collage, basierend auf dem einstündigen Interview, das im Februar in Berlin stattfand. „I know you“ war sein erster Satz, er schien sich tatsächlich an ein kurzes Treffen einige Jahre zuvor nach einem Konzert zu erinnern. Jarre: ein überaus informierter und reflektierter Gesprächspartner, der zwar gerne über die Vergangenheit spricht, eigentlich aber nur die Zukunft im Blick hat.

Tja, wie ging das alles los mit mir und der elektronischen Musik? In den 1960er-Jahren habe ich zunächst klassische Musik studiert und gleichzeitig angefangen, in Rockbands zu spielen. Schon als Teenager war ich daran interessiert, mit Sounds zu arbeiten, sie zu verfremden. In den Bands habe ich meine Gitarrensoli erst mit einer Bandmaschine von Telefunken aufgenommen und dann wieder abgespielt. Ich habe die Tempi verändert, die aufgenommenen Klänge manipuliert und rückwärts abgespielt. Dann erfuhr ich vom IRCAM, dem Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique in Paris. Ich bin dort hingefahren, sprach mit den Leuten vor Ort und stellte fest, dass man dort dabei war, einen gänzlich anderen und neuen Zugang zu Musik zu entwickeln. Das war die Zeit der Studentenrevolten in Paris, junge Menschen rebellierten, wollten die Welt verändern. Alles wurde in Frage gestellt – auch die klassisch-amerikanische Rockmusik à la Elvis Presley. So kam ich erstmals in Kontakt mit Pierre Schaeffer und der „Musique Concrète“. Musik, die nicht mehr zwangsläufig auf Tönen basiert, sondern auf Klängen und Geräuschen. Man kann mit allem Musik machen: mit dem Geräusch des Regens oder dem eines vorbeifahrenden Zuges. Das hat meine Wahrnehmung von Musik und mein Leben maßgeblich verändert.

Jarre EMS VCS 3

Der VCS 3 vom EMS. Foto: Standard Deviant - Flicker

Der erste Synthesizer

Ich verkaufte meine elektrische Gitarre und Verstärker, reiste nach London und habe meinen ersten Synthesizer gekauft, einen VCS 3 von EMS. Viel kleiner als ein Modularsystem, sehr praktisch und auch bezahlbarer. Den habe ich heute immer noch. Der Gründer der Electronic Music Studios (EMS) hieß Peter Zinovieff. Ich besuchte ihn in seinem kleinen Haus außerhalb der Stadt und ließ mir den VCS 3 von ihm erklären. Daran erinnere ich mich noch sehr gut: Das Haus war ziemlich unaufgeräumt und chaotisch. Seine gutaussehende, blonde Frau war da, sie war gerade schwanger, und zwei weitere Typen, die in der Wohnung die ganze Zeit Darts spielten. Sie waren wohl jeden Tag da und machten nichts anderes. Und ich saß dazwischen und versuchte den Pfeilen auszuweichen. Das war also mein erster Kontakt mit einem Synthesizer. Peter Zinovieff war ein ganz schöner Hippie. Aber der Synth funktioniert immer noch und ich nutze ihn nach wie vor. Er hat einen sehr eigenen Sound, den man sofort erkennt. Er war aber auch sehr schwierig zu bedienen, ziemlich britisch sozusagen, denn britische Erfindungen sind oft schwierig in der Handhabung. Dieser Synthesizer ist weniger dazu geeignet, feine Melodien zu spielen, als vielmehr rohe Sounds und Effekte zu produzieren.

„Die Ansätze von abstrakter Malerei und elektronischer Musik sind sehr ähnlich. Es geht um Texturen.“

Für mich hatte der Erstkontakt mit elektronischer Musik eine große emotionale Wirkung: Man muss sich das wie mit abstrakter Malerei vorstellen. Ich habe mich damals sehr intensiv mit abstrakter Kunst beschäftigt und dachte sogar daran, eine Karriere als Maler einzuschlagen. Ich mochte das Nonfigurative wie bei Jackson Pollock und Pierre Soulages. Mit 14 war ich auf einer Ausstellung der beiden in Paris. Das hat mein Leben nachhaltig verändert und beeinflusst. Wenn also Pierre Schaeffer von der Musique Concrète sprach, davon, Musik in einem organisch-sinnlichen Sinn zu mischen und zu schaffen, denke ich, dass er es analog zur abstrakten Malerei verstand. Vielleicht hätte man abstrakte Malerei besser konkrete Malerei, „Peinture concrète“ nennen sollen. Man arbeitet mit den Händen wie ein Koch. Während klassische Musik viel konzeptueller ist und ein klassischer Maler versucht, die Welt um sich herum zu visualisieren, setzt sich abstrakte Kunst und später auch Medienkunst mit Texturen, Farben und Pixeln im Allgemeinen auseinander. Und bei elektronischer Musik geht es um Wellenformen, Frequenzen und ebenfalls um Texturen. Ich finde beide Ansätze sehr ähnlich.

Elektronische Musik war seinerzeit noch eine sehr elitäre Angelegenheit, die Vorreiter kamen aus Deutschland und Frankreich. Das ist in den USA oder Großbritannien natürlich keine besonders populäre These, Fakt ist jedoch: Eigentlich ist elektronische Musik eine kontinentaleuropäische Musik. Sie hat nichts mit Jazz, Blues, Rock oder Pop zu tun. Sie hat ihre Wurzeln in der klassischen Musik und wurde vor allem beim Rundfunk vorangetrieben. Die ersten Studios wurden bei Radiosendern installiert. Menschen experimentierten dort und begannen, mit Oszillatoren, Filtern und deutschen und französischen Klanggeneratoren Musik zu machen. Die dort vorhandene Technik, die gar nicht zum Musik machen gedacht war, wurde quasi geklaut, beziehungsweise übernommen. Wir haben uns Technologien angeeignet, die zuvor nur in der Welt der Radiosender existierten.

„Meine erste Platte habe ich praktisch illegal produziert.“

Ich erinnere mich noch sehr gut, wie das damals lief: Ich hatte Freunde, die bei Radio France arbeiteten. So bekam ich einen Schlüssel für das Studio, bin da nachts hin, um Musik zu machen. Komplett illegal. So sind meine ersten Platten entstanden. Das war gelebter Underground (lacht). Wir hatten keine andere Wahl, selbst mein eigener EMS wahr unglaublich teuer. Aber ich arbeitete parallel für andere Künstler, schrieb Songs und konnte so ein bisschen Geld verdienen. Es gab damals einfach so gut wie keine Möglichkeit, an elektronische Instrumente heranzukommen. Umso mehr freue ich mich darüber, wie einfach und günstig Kids heute Zugang zu elektronischer Klangerzeugung bekommen können – und es ärgert mindestens genauso, wenn Leute heute dann monieren, dass jeder Musik machen kann. Ich muss da an den Vatikan denken, der es Gutenberg einst verübelte, dass er Schriften und Bücher der breiten Masse zugänglich machte. Solchen Leuten geht es um Machterhalt und nicht darum, im Sinne der Kunst zu handeln. Gute Musik oder gute Bücher zu schaffen, ist heute dadurch ja nicht leichter geworden.

Jean-Michel Jarre und seine Instrumente: 1977 und ca. 2008

Oxygene wurde 2007 zum 30jährigen Jubiläum des Album neu eingespielt, praktisch ausschließlich mit den Originalinstrumenten aus den 1970er-Jahren. Begleitend gab es eine Tour.

Jean Michel jarre 07

Foto: Tom Sheehan / EDDA

Gefühle sind wichtiger als Avantgarde

Heute weiß ich: Ich habe die damals zeitgenössische Musik betrogen. Ich musste feststellen, dass sich die Protagonisten der zeitgenössischen elektronischen Musik nach einiger Zeit als Avantgarde empfanden. Sie haben nicht verstanden, dass zeitgleich viele spannende Dinge in der Popmusik entstanden, dass es dort um Empirie und weniger um Wissenschaften ging. Das Umfeld um Boulez, Messiaen und Schaeffer hat mich zweifelsohne geprägt und ich blicke auf diese Epoche immer noch mit dem größten Respekt zurück. Aber mit der Zeit fand ich den Ansatz und die Attitüde zu steril. Avantgarde hat immer das Problem, dass sie nach 30 Jahren zur Klassik wird. Das war bei Igor Strawinsky und „Le sacre du printemps“ schon so und wenn ich heute Kompositionen von Iannis Xenakis höre, denke ich nicht an das 21. Jahrhundert, sondern an das Atomium in Brüssel aus den 1960er-Jahren. Es klingt vintage, gar nicht wie ein Klassiker. Der Grund ist folgender: Es ging zu sehr um den intellektuellen Zugang zur Musik. Ich erinnere mich, wie Xenakis in einer Meisterklasse zu uns sagte: Alles, was Gefühle mit Musik verbindet, ist fragwürdig. Aber Gefühle sind doch genau das, was Popmusik so stark und groß gemacht hat. Mir ging es darum, diese Brücke zwischen Experiment und Pop zu schlagen. Ich verspürte das Bedürfnis, so etwas zu tun. Ob in der Literatur, im Kino oder in der Kunst, wenn es den Kontrast aus Traurigkeit und Fröhlichkeit gibt, dann mag ich das. Interessanterweise hieß mein erster Track schon „Happiness is a sad song“. Seitdem ist es quasi ein Motto, das mich Jahrzehnte lang begleitet hat. Darum geht es meiner Meinung nach in der Musik.

„Elektronische Musik ist die wichtigste und größte Bewegung aller Zeiten, nicht zu vergleichen mit Rock oder HipHop.“

Elektronische Musik klang zu der Zeit oft komödiantisch. Ob bei Jean-Jacques Perrey oder bei Walter Carlos. Bei allem Respekt, aber „Switched on Bach“ hat eine komische Seite. Die Pioniere der Musik standen auch für die Ambiguität der elektronischen Musik. Synthesizer waren zu der Zeit seltsame Maschinen, die klassische Musik imitierten. Geigen und Klarinetten wurden eher schlecht als recht kopiert. Dann war elektronische Musik häufig der Soundtrack für Science-Fiction-Filme, also eine Art Mittel um Zweck, um Maschinen adäquat zu vertonen. Kraftwerk haben das immer wieder thematisiert und auch Tangerine Dream ließen am Ende ihrer Konzerte die Maschinen weiterlaufen und verließen die Bühne, um zu zeigen, dass der Mensch hinter der Maschine von immer geringerer Bedeutung ist. Kraftwerk haben das ohne Frage brillant gemacht. Aber so wurde selbst dem großen Publikum klar: Elektronische Musik ist kalt, hat keine Emotionen. Zuletzt kommt die Explosion durch DJs und Musik für den Dancefloor. Für viele Menschen steht elektronische Musik stellvertretend für Clubmusik. Aber wie wir heute wissen, ist das immer nur die halbe Wahrheit. Elektronische Musik ist mehr. Es ist die wichtigste und größte Bewegung aller Zeiten, nicht zu vergleichen mit Rock oder HipHop. Es geht dabei weniger um einen bestimmten Style als vielmehr um den Ansatz, Musik zu machen. Musiker von heute sind alle Sound-Designer. Sie setzen alle die Tradition von Pierre Schaeffer fort. Vermutlich ohne zu wissen, wer das gewesen ist.

Jean-Michel Jarre 02

Impressionismus und Zukunft

Mit meinen französischen Wurzeln spielte auch der Impressionismus eine wichtige Rolle. Bei Air ist es nicht anders und Rone verfolgt einen ähnlichen Ansatz. Sogar Daft Punk und Gesaffelstein haben hinter ihren Beats dieses impressionistische Klangkonzept. Als „Oxygene“ 1977 herauskam, wollte ich Anti-Pattern-Musik machen. Mein Dogma war damals, und das würde ich auch heute noch jedem Musiker raten: Befreie dich vom Viervierteltakt. Selbst, wenn du eine Drummachine benutzt. Nimm einen Take von fünf Minuten auf, das Ergebnis wird ein anderes sein. Während der Aufnahmen von „Oxygene“ war ich von der Idee besessen, dass keine Sequenz wie die andere klingen darf, selbst wenn die Töne die gleichen sind. Damals gab es noch kein MIDI und alle Sequenzen mussten per Hand eingespielt werden, aber nur so konnte das Hypnotische entstehen. Es gab keine Loops, jeder Part war irgendwie anders. Ich vergleiche das immer damit, was man sieht, wenn man Wellen im Meer anschaut. Sie sehen gleichmäßig aus, aber keine ist wie die andere. Das sind Aspekte, die elektronische Musik für mich interessant machen. EDM ist heute sehr formatiert und DJs stellen fest, dass man sich von dem befreien muss, was zur Zeit passiert.

„Wir suchen immer noch nach dem nächsten Philip K. Dick.“

Die späten 1970er-Jahre, als ich „Oxygene“ und „Equinox“ produzierte, waren ja von der Idee geprägt, dass der Alltag die Zukunft mitbestimmen könnte. Es gab eine positive Zukunftsvision. Auf den Mond zu fliegen, war nichts Besonderes mehr, mit der Concorde konnte man in wenigen Stunden nach New York. Die Zukunftsvision war: Im Jahr 2000 können auch Autos fliegen. 2000 musste man jedoch feststellen, dass wir noch weit davon entfernt waren, und irgendwie haben wir dabei den Appetit auf die Zukunft verloren. Alle Superhelden von heute, die für Science-Fiction stehen, sind Marvel-Charaktere, die bereits in den 1940er-Jahren erfunden wurden. Das Bild unserer Zukunft wird immer noch durch Helden unserer Großeltern repräsentiert. Batman, Superman, Captain America, Iron Man. Wir müssen die Zukunft neu denken und ich finde, dass das auch langsam wieder passiert. Konzepte wie Virtual Reality zeigen das, aber es dauerte wirklich lange, bis wir wieder an diesen Punkt gekommen sind. Wir suchen immer noch einen neuen Philip K. Dick. Zukunft wird heute nach wie vor eher recycelt als neu erfunden.

Rave ist und bleibt Rave

Von Beginn an habe ich überlegt, wie man elektronische Musik am besten live aufführen kann. Damals war es ja noch viel schwieriger als heute. Das Equipment war einfach nicht dafür gedacht, auf die Bühne gestellt und dort bedient zu werden. Der große Unterschied zwischen elektronischer Musik und allen anderen Musiken: Unsere Instrumente eignen sich nicht dafür. Da hat man es in anderen Genres leichter. Denn diese Instrumente warum von Anfang an so konzipiert, damit live aufzutreten. Erst später hat man dann angefangen, in Studios Mikrofone davor zu positionieren, sie zu verstärken und aufzunehmen. Elektronische Instrumente waren für Studios gedacht und diese musste man nun auf die Bühne bringen. Also genau der umgekehrte Weg.

Es ist nicht sonderlich sexy, wenn man hinter einem Synthesizer oder Laptop verschanzt sitzt, um Musik zu machen. Wieso sollte man so etwas als Performance sehen? Gerade heute, wo es überall so viel Musik zu hören gibt, gibt es im Livesektor Erwartungen, was die visuelle Inszenierung anbetrifft. Früher ging man auf Konzerte, um Musik zu hören. Heute will man etwas sehen. Das erkennt man daran, dass man Ohrenstöpsel auf Konzerten verkauft, weil der Sound oft nur laut und zweitrangig geworden ist. Aber nicht nur das: Die Leute hören den Sound durch Ohropax und schauen sich das Konzert durch ihre iPhones an. Es muss ja alles dokumentiert werden. Der Moment bedeutet immer weniger.

In den Anfangstagen hat mich die deutsche Oper sehr interessiert. Es war faszinierend, wie beispielsweise Richard Wagner mit Handwerkern und Malern gearbeitet hat, um eine visuelle Ebene für die Musik zu schaffen – eine theatralische Bühne. Dass ich früh mit Videos, Laser und aufwändigen Lichtshows gearbeitet habe, lag daran, dass ich schon immer an ein Gesamtkunstwerk gedacht habe. Es entsprach meiner Vorstellung von dem, wie elektronische Musik performed werden konnte.

Live 1976

Live 2011

Ich mag Raves. Vielleicht habe ich sie sogar erfunden. Und die letzten Jahre über dachte ich mir: Endlich haben es die Leute verstanden, worum es geht. Einen Ort zu kidnappen und für eine Nacht eine ganz andere Umgebung zu schaffen. Früher hatte man die Wahl zwischen Theaterbühnen für klassische Musik, Jazzclubs und Rockclubs, wo es schon eine gute Akustik für verstärkte Musik gab, und schließlich großen Mehrzweckhallen, wo am Montag ein Kongress stattfindet, Donnerstag eine BMW-Mitgliederversammlung, Freitag ein Boxkampf und Samstag ein Konzert. Diese Arenen klangen schon immer schlecht. Elektronische Musik ist für mich immer„out of space“. Ich wollte schon von Beginn an Kontrolle über den Klang und die Größe des Aufführungsortes haben. Also habe ich mit unterschiedlichen Venues experimentiert. Damals war das noch Neuland. Heute sind Rockkonzerte durchformatiert und im Prinzip nichts anderes als klassische Konzerte für meine Elterngeneration. Es gibt viele Codes. In der elektronischen Musik gibt es die noch nicht.

Natürlich sind die großen Gratiskonzerte, wie ich sie immer gemacht habe, heute schon aus Sicherheitsgründen schwer umzusetzen. Aber ich hoffe sehr, so etwas auch in Zukunft wieder machen zu können. Terrorismus ist eine schlimme Sache, weil man nie weiß, wann und wo ein Anschlag passieren wird. Wir sollten uns dadurch aber nicht aus der Fassung bringen lassen, unserer durchaus berechtigten Angst nicht das Feld überlassen. Ich glaube fest daran, dass ein gut geplantes Konzert selbst in vermeintlichen Krisenregionen, wo immer wieder Anschläge stattfinden, letztendlich ungefährlicher ist, als genau dort einfach zum Strand zu gehen. Musiker und Promoter sollten sich nicht davon abschrecken lassen, im Gegenteil. Wir müssen gerade dort spielen. Diese krisengeschüttelten Länder brauchen Musik mehr als je zuvor. Das ist etwas, das ich selbst in naher Zukunft gerne realisieren möchte.

Ich bin bereit, wieder große Gratiskonzerte zu machen. Wir diskutieren die Möglichkeiten zur Zeit. Mein ganzes Electronica-Projekt dreht sich um das Vermächtnis der elektronischen Musik und darum, es mit einer neuen, jüngeren Generation zu teilen, ihnen dieses Erbe näher zu bringen. Gleichzeitig sind mir aber auch kreative Prozesse wichtig. Als ich die Kollaborationen für beide Alben angestoßen habe, ging es mir nicht um Hypes. Ich wollte keinen Justin Bieber oder so dabei haben, nur weil er gerade angesagt ist. Mir waren Künstler wie Rone oder Siriusmo viel wichtiger, weil sie für mich großartige Musiker sind. Die sind vielleicht noch nicht so bekannt, aber darum ging es mir auch nicht. Ich wollte mit ihnen arbeiten, einen Austausch anstoßen, einen Wissenstransfer.

Jean Michel Jarre 06

Foto: Tom Sheehan / EDDA

Siriusmo und Rone über die Zusammenarbeit mit Jean-Michel Jarre

Siriusmo

Foto: Wikipedia

Siriusmo

„Als ich Jean-Michel das erste Mal am Telefon hatte, war ich ein bisschen aufgeregt und verunsichert, ob wir denn auch eine gemeinsame musikalische Sprache finden wurden. Er entpuppte sich als netter Typ, voller Energie und Liebe zur Musik, super aufgeschlossen für jedes Experiment, wir haben viel gelacht und ich bin kaum zu Wort gekommen. Sehr locker und schnell haben wir dann einen, wie ich finde, lustigen kleinen Track gemacht.“

Rone Portrait

Foto: Facebook

Rone

„Es ist ziemlich überwältigend, die Chance zu haben mit jemandem wie Jean-Michel Jarre zusammenarbeiten zu können. Er ist eine Legende. Ich finde es eigentlich eher schwierig, mit anderen Musikern zu arbeiten, mit ihm war es überhaupt kein Problem. Man fühlt sich einfach wohl an seiner Seite. Er vertraut einem, spornt einen an, er hat eine sehr motivierende Präsenz. Dabei gibt er selbst bei der Arbeit immer 100%.“

Einsam in den 90ern

Als ich mit meinen aufwändigen Performances in den 1970er-Jahren anfing, haben selbst Bands wie die Rolling Stones nur mit ein paar Scheinwerfern ihre Gitarren gespielt. Die einzige Band, die einen ähnlichen Ansatz verfolgte, waren Pink Floyd. Als sich die Band dann auflöste, sagte Nick Mason in einem TV-Interview: Jetzt kann Jean-Michel Jarre alleine weiter machen. Außer Pink Floyd und mir gab es wenige, die in diesen Dimensionen gedacht haben. Wir haben früh mit einem Clicktrack live gespielt, um den Sound mit den Projektionen und der Lichtshow zu synchronisieren. Ich war einer der ersten, der Projektionen auf Gebäude gebracht hat. Heute ist Mapping zum Standard für nahezu jedes Marketing-Event geworden. Elektronische Musik hat die Eigenschaft, eine eigene Architektur darzustellen. Daher eignet sie sich so gut in urbanen Räumen, aber auch in der Natur.

In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden Synthesizer immer mehr zum Standard, Techno eine große Bewegung. Diese Zeit empfand ich als befreiend. Zuvor hatten sich Künstler meiner Generation von der Elektronik mehr und mehr distanziert, Tangerine Dream zum Beispiel arbeiteten wieder mehr mit Gitarren, Vangelis hat quasi nur noch noch Soundtracks gemacht und Kraftwerk hörten komplett auf, neue Musik zu produzieren. Ich fühlte mich ein bisschen einsam. Aber dann kam der britische Synth-Pop/New Wave, den ich sehr mochte. Vince Clark und Gary Numan. Aber auch Künstler aus Detroit wie Jeff Mills, die Techno erschaffen haben. Der dann hauptsächlich in Europa populär war, in den USA hat es ja die wenigsten interessiert. Auch deshalb, weil man Europa schon damals einen anderen Zugang zu elektronischer Musik hatte. Ich habe es immer als positiv erachtet, dass immer mehr Musiker auf diesen Zug aufgesprungen sind. Die nicht so schöne Seite – und das hat nichts mit den Menschen zu tun – war die Technologie der Zeit. Vor dem Yamaha DX7 gab es so viele inspirierende Menschen wie Robert Moog und Tom Oberheim, die haben den Sound elektronischer Instrumente mitbestimmt. Doch plötzlich kam der DX7 und auch wenn Brian Eno noch immer sagt, das sei sein Lieblingsinstrument: Dieser Synth hat die alte Seele getötet, die elektronische Musik ausgemacht hat. Presets nahmen den Platz von Sounds ein, die man zuvor noch manuell bauen musste. Und es war der Schritt zurück zu „Switched on Bach“ – zu der Zeit, als Synths Sounds nur gefakt haben.

Zeitgleich kam die CD auf den Markt, die als heiliger Gral der Klangqualität angepriesen wurde. Aber eigentlich war sie vom ersten Tag an Schrott. Viel schlimmer als Vinyl. Ich will nicht sagen, dass die Schallplatte das beste Medium der Welt ist. Aber die CD ist ein rein industriell geschaffenes Medium, das einem als Ultima Ratio verkauft wurde. Versuch mal, heute CDs aus den 1980er-Jahren zu hören, das geht nicht mehr. Für mich war die CD von A-Z ein einziger Schwindel. Im Vergleich dazu sind Schallplatten einfach zeitlos.

Die CD war die VHS der digitalen Ära. Lo-Fi hat als Sound seine Qualitäten. Die 1980er- und 1990er-Jahre waren soundtechnisch eine dunkle Epoche. Was nicht heißt, dass keine interessanten Dinge passiert sind. Aber für mich war es eine große Herausforderung. Ich habe mich nicht sonderlich wohl gefühlt. Heute fühl ich mich besser als vor 20 Jahren, was die technologische Umgebung anbetrifft. Heute sind analoge und digitale Instrumente gleichberechtigt, die Systeme greifen viel besser zusammen. Darum geht es mir bei „Electronica“ auch, weil ich liebend gerne moderne Software-Instrumente und alte Synths parallel benutze. Die besten Zeiten kommen also noch.

Die Laser-Harfe? Die ist Teil meiner DNA. Ich liebe diese japanischen Mangas aus den 1980er-Jahren. In Frankreich waren sie sehr bekannt. Und die Kids damals in Frankreich haben in mir eine Art japanischen Mangahelden gesehen. Science-Fiction. Daft Punk haben diesem Helden Tribut gezollt, aber der Held war ja eigentlich ich mit der Laserharfe (lacht). Mir macht die Harfe noch immer viel Spaß und ich werde das Konzept weiter entwickeln.

Album bei iTunes

Jean-Michel Jarre, „Electronica 2: The Heart Of Noise“, ist auf Sony erschienen. Am 16. Juli spielt Jarre auf dem Melt Festival, die reguläre Deutschland-Tour startet im Oktober.

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