Rewind: Klassiker, neu gehörtKraftwerk – Trans Europa Express (1977)
5.4.2017 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin RaabensteinBevor aus Kraftwerk Roboter wurden, setzte sich die Düsseldorfer Band in den Trans Europa Express. Und nahm mit dieser Platte 1977 ihr vielleicht wichtigstes Werk überhaupt auf. Der Titeltrack ist ein unbestrittener Klassiker und gilt auch heute noch als einer der wichtigsten Referenzpunkte überhaupt, wenn es um die Entstehung von Electro und Techno geht. Afrika Bambaata sampelte das Stück in „Planet Rock“ und machte die Deutschen so zu Helden der HipHop-Kultur. „Trans Europa Express“ zeigt aber auch erstmals das gesamte Pop-Potenzial der Band, das in den Folgejahren mit den Alben „Die Mensch-Maschine“ und „Computerwelt“ endgültig die Oberhand im Kraftwerk-Sound gewann. Hier jedoch, auf TEE, leben Erbe und Zukunft der Band noch gleichberechtigt nebeneinander. Herrmann und Raabenstein sind sich einig: So gut waren Kraftwerk nie wieder. Das gilt auch 40 Jahre nach der Veröffentlichung.
Martin: In Politik ’ne 6, sprachlich gerade mal eine 5 und die 1 in Musik. So schafft man doch keine Versetzung in die nächste Klasse.
Thaddeus: Aha!
Martin: Okay, von vorne. „Trans Europa Express“ hat nicht mehr die selbstbestäubte Traumsuseligkeit des krautdurchwirkten Vorgängers „Radio-Aktivität“ und liebäugelt noch nicht mit den Giorgio-Moroder-Sequencer-Diskotäten des 77er-Donna-Summer-Stampfers „I Feel Love“ wie später auf „Die Mensch-Maschine“. Aus meiner Sicht ist das Album damit der eigentlich originäre Blueprint des Kraftwerk-Sounds.
Thaddeus: Da kann ich nur zustimmen. Wenn ich mit für eine Kraftwerk-Platte entscheiden müsste, ich würde immer diese hier nehmen. Eigentlich aus genau den Gründen, die du auch anführst. Es ist das stilprägendste Album der Band, ein komplett durcharrangiertes Statement. Mit allen Zutaten, die den späteren Erfolg und die Massenkompatibilität der Band begründet hat, dabei aber noch sperrig und Lo-Fi genug, um nicht in die Gassenhauer-Falle zu tappen. Warum ist das so? Ich will nicht auf den Titel-Track „Trans-Europa-Express“ hinaus, nicht auf dessen Adaption durch die New Yorker HipHopper, auf dieses eine Sample, das die Band nochmal einem ganz anderen Publikum näher gebracht hat. Es sind genau die anderen Tracks, die hier so immens wichtig sind. Wo ich nicht zustimme, ist deine Bewertung des vermeintlich Politischen. Aus der heutigen Distanz finde ich den europäischen Gedanken erstaunlich überzeugend und nachhallend. Das ist rund. Sehr naiv, irgendwie putzig. Aber in seiner Bescheidenheit wahnsinnig groß.
Martin: Ich bin mir da nicht so ganz sicher, ob dein Europa-Gedanke im heutigen Sinne da wirklich drinsteckt.
Thaddeus: Reisefreiheit für piefige Westdeutsche, im Wissen, in Paris nicht gleich am Gare du Nord wieder zurückgeschickt zu werden?
Martin: Schon eher. Die Suche nach einer größeren Identität als die, die der deutschen Nachkriegsgeneration im eigenen Land geboten wurde. Nach all den Jahrzehnten fasst mich noch immer das blanke Entsetzen an, welch gigantisches, kulturelles Loch die Nationalsozialisten mit ihrer todbringenden Maschine hinterlassen hatten. Schau dir doch mal an, welch fantastisch-kreativen Landschaften im englischsprachigen Raum in den Sechzigern und Siebzigern entstanden und das einzige, was den Musikern hier dem entgegensetzend in den Sinn kommt, ist dieses elektronische Pling-Plong. Wie samenlos und tiefschwarz verbrannt muss dieser Acker gewesen sein!
Thaddeus: Der Acker war vor allem unbeobachtet. Ich würde ja Pling-Plong – von mir aus auch Kling-Klang – immer allem anderen vorziehen. Aber: Diese alte Klischee-Rechnung – Kreativität im anglo-amerikanischen Raum, Ödnis und Schlager bei uns – stimmt ja so auch nicht. Natürlich nutzen die Siegermächte ihre Position und entdeckten die früheren Kriegsschauplätze als globalisierte Export-Märkte. Liebe junge Deutsche, hier ist unsere Musik, unsere Kultur, nehmt das und viel Glück in der Zukunft. Kein Jugendlicher wollte zu der Zeit doch etwas „Deutsches“ machen. Kann ich nur zu gut verstehen. Überleben heißt auch immer, in die große weite Welt zu blicken.
Martin: Und dann kommt Krautrock à l'allemand. Amon Düül, Guru Guru und eben auch Kraftwerk. Die frühen Siebziger. Das war damals schon schwer erträglich. Ich frage mich, wie man als „Ralf und Florian“, mit Flöte und Gitarrenzupfen, plötzlich in die pure Elektronik abrutscht.
Thaddeus: Hoffentlich waren sie einfach von sich selbst gelangweilt. Das ist bestimmt alles bestens dokumentiert. Wichtiger ist doch, dass den Jungs an irgendeinem Tag bei irgendeinem Drink an irgendeiner Theke plötzlich ein Licht aufgegangen ist. Mehr Synthesizer – auf „Autobahn“ war das ja noch so semi-geil – und weniger von allem anderen. Alleinstellungsmerkmal. Raus aus Düsseldorf. Dort waren sie ja in der Szene weder beliebt noch geschätzt, reiche Jungs und Kunststudenten. Wir erleben hier einen Wandlungsprozess, der sich über mehrere Platten erstreckt. „Radio-Aktivität“ ließ sich als fragwürdiges Statement natürlich bestens ausschlachten, da glitzerte der Pop stellenweise schon durch, ist natürlich aber vor allem Konzept. Dass genau dieser Hang immer weiter rückgebaut wurde und sich Kraftwerk schließlich dazu entschloss, eine Pop-Band zu werden: Das war wahrscheinlich einfach ein Glücksgriff der Geschichte. Dass eine Band, die schwer auf der Suche nach was auch immer war, plötzlich solche Songs wie auf „Trans Europa Express“ schreiben kann.
Martin: Ja eine gewisse Cleverness vermute ich auch. Oder einfach eine genaue Beobachtung der deutschen Szene. In Berlin sind Klaus Schulze und Tangerine Dream schon seit 1971 dabei, an Knöpfchen zu drehen, statt sich mit den langen Haaren im Gitarrenbund zu verhaspeln.
Thaddeus: Aber Schulze und Co. waren eben auf der Suche nach dem – Achtung: Kosmos –, und Kraftwerk wollten einfach auf den Champs-Élysées rumhängen. Eine Frage der Perspektive!
Martin: Jaja, der Kosmos. 1973 schwängerte die „Funkschau“ die Welt noch mit folgenden Worten: „Der Synthesizer bietet... den Vorstoß in einen unbegrenzten Raum von Möglichkeiten, in dem man fasziniert und resigniert zugleich die Hilflosigkeit unserer Vorstellungskraft erkennen muss.“ Kraftwerk macht ja genau das Gegenteil. Da wird nicht schwadroniert und endlos im All geschwebt, da wird geordnet, geklärt. Sehr teutonisch wiederum, eigentlich.
Thaddeus: „Funkschau“? Schon so ein Influencer-Medium, wa? Egal. Was du hier ansprichst, ist des Pudels Kern. Genaue Marktanalyse und dann das Beste draus machen. Das ist Kraftwerk. So ein bisschen wie Apple heute. Das Album ist und bleibt aber ein Glücksgriff. Weil hier einfach alles passt. Gute Songs, gute Texte, fast schon humoristische Lyrik, die es gerade so schafft, sich durch den Krawatten-Knoten durchzuschummeln. Und dann eben dieses Visionäre, das Politische. Ich will das nicht wegdiskutieren. Das ist schon wichtig. Frag mal Klaus Schulze, was der heute wählt!
Martin: Ach, der Schulze. Läuft hier nicht mehr. Spannend vielmehr ist, dass Florian Schneider den Sequenzer, der maßgeblich für den Sound auf „Trans Europa Express“ verantwortlich ist, ursprünglich mit den Worten ablehnte: „Ich bin ein menschlicher Sequenzer“, nur um dann auf dem Folgealbum das Ganze mit „Wir sind die Roboter“ zu toppen. Die göttliche Trilogie „TEE/Mensch-Maschine/Computerwelt“ ist leider in den darauf folgenden Jahren zu einer Endlosschleife technoiden Einerleis verkommen, oder was meinst du?
Thaddeus: Dieses Album hier kann ich heute jedenfalls noch durchhören, die anderen nicht mehr. Ich finde übrigens die Sequenzen, also die vermeintliche Automation des Klangs, auf „Trans Europa Express“ alles andere als bemerkenswert. Diese Erkenntnis zieht sich durch meine gesamte Beziehung mit Kraftwerk. Das Technische interessiert mich an dieser Band überhaupt nicht. Ich empfinde Kraftwerk von der produktionstechnischen Warte aus betrachtet als komplett underwhelming. Das spricht ja eigentlich nur für die musikalischen beziehungsweise ästhetischen Qualitäten der Band.
Ohnehin ist Kraftwerk für mich vor allem ein ästhetisches Phänomen.
Mit guten Beats im Nachgang, wenn du willst. Dieses Tohuwabohu, das immer um die Produktion der Band gemacht wird, das mag ja alles richtig sein, ist letztlich aber auch egal. Denn – hier sind wir wieder bei Klaus Schulze und seinen Schöneberger Kiffer-Sounds – technisch war das alles zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise ein Problem. Oder eine Herausforderung. Es geht darum, in welche Form man das gießt. Und das hat Kraftwerk mit Bravour revolutioniert. Klar wurde das mit den weiteren Platten vielleicht uninteressanter. Aber auch das würde ich der Band nicht vorwerfen. Lunte gerochen, Idee gehabt, umgesetzt. Ey, es gab wohl in dieser Zeit nie eine besser angezogene Musikgruppe bei Top Of The Pops, oder?
Martin: Da hast du dich aber knapp im Jahr geirrt. Die schönen, von der Fachpresse fälschlicherweise faschistoid genannte Hemd-Schlips-Kombination kommt erst bei „Mensch-Maschine“. Was die Herren hier auf dem Cover tragen, ginge heute nicht mal mehr beim Abschlussball durch. Da muss man dann schon das ursprüngliche Coverfoto von Starfotoraf Maurice Seymour machen lassen, der hatte seine Glanzzeit in der 40ern, mein lieber Thaddi.
Thaddeus: „Mensch-Maschine“ steht ja auch für eine ästhetische – da haben wir es wieder – Umorientierung. Ein Anbiedern am sowjetrussischen Einheitslook der Kosmonauten. Die natürlich nie rote Hemden getragen haben – Pioniere fliegen nicht ins All. Ich finde den Look der Band zu TEE-Zeiten aber nicht minder bemerkenswert. Das sieht im Video auch sehr gut aus, mit diesem Märklin-Zeppelin-Zug, der da durch die Kulisse rauscht und wie dann schnell in die 1. Klasse der Bundesbahn umgeschnitten wird. Alles sehr schlüssig. Wenn auch garantiert nur kurz vor knapp mit 3 Mark fünfzig zusammengezimmert. Ich bleibe dabei: Dieses Album ist das beste der Band. Weil da eben noch nicht alles durchgebrandet war. Das ist so humorvoll. Etwas, was sich die Band ja sehr schnell abgewöhnt hat. Den letzten Witz von Kraftwerk gibt es bei „Das Model“: „Sie trinkt Sekt, korrekt.“ Ist in der englischsprachigen Version ja schon rausgestrichen. Wollen wir jetzt noch über die Zweisprachigkeit der Band reden oder noch ein paar TEE-Anektoten austauschen?
Martin: Schmankerl bei Hütter/Schneider/Bartos/Flür? Gerne. Bei „Schaufensterpuppen" schmunzel ich immer noch. Schunkelnder Polenpolka-Effekt durch die Dopplung von Kick und Snare... mein Lieblingstrack, immer noch, und ich muss dennoch lachen!
Thaddeus: Es ist schon die A-Seite, die bei dieser Platte entscheidend ist. Dem Titeltrack ist mittlerweile zu viel zugestoßen, auch wenn Afrika Bambaata mit dem Sample in „Planet Rock“ ungefähr alles angestoßen hat, was unsere Musikkultur heute bewegt. Thema für ein anderes Gespräch. Aber die drei Tracks vorne reichen mir, um das Album auch 40 Jahre noch auf den Thron der Throne zu heben. Game Of Thrones kann doch kacken gehen. Die hatten damals auch noch gar keine Eisenbahn!
Martin: Recht hat der Mann. Wenn nicht im Kleingeschriebenen auf der Rückseite die bittere Wahrheit schon angelegt wäre. „Endlos Endlos“, so geht dann die Saga weiter. Man sollte sich nicht mit seinen Nachfahren – Techno – paaren, wie dann ja geschehen. Was ein Elend an sinnverlorenen Überarbeitungen, Remixen und Anbiederungen. Traurig das.
Thaddeus: Man nennt das wohl kluges Monetarisieren unter dem Deckmantel des Work-in-Progress. Mit geht es ja genauso, aber das muss uns ja auch nicht tangieren. Die Band ist tot. Dass der Kraftwerk-Hüter Hütter mit Alt-Herren-Bauch heute noch in 3D auf der Bühne steht und die Greatest Hits verspielt: geschenkt. Mir doch egal. Gehe ich nicht hin, sondern höre TEE und gut ist.
Martin: Interessante Bilanz. Kraftwerk kann nur in den Siebzigern, als Monolith. Dort sind sie authentisch, zu greifen und ohne Lack. Schönes Jahrzehnt das, kräftig, wach. Ohne endlos eben.