Rewind: Klassiker, neu gehörtBrian Eno – Before And After Science (1977)

Rewind - Brian Eno - Before And After Science

Im Dezember 1977 erschien Brian Enos fünftes Studio-Album „Before And After Science“. Vorbei war seine Zeit bei Roxy Music, der Musiker widmete sich vermehrt dem Sound, den wir heute Ambient nennen. „Discreet Music“ hatte er bereits vorgelegt. Kurze Zeit später sollte „Music For Airports“ folgen, eine Platte, die maßgeblich für den Ruf Enos verantwortlich ist, den er noch heute genießt. Für „Before And After Science“ arbeitete Eno mit zahlreichen Musikern zusammen: seinem ehemaligen Roxy-Music-Kollegen Phil Manzanera zum Beispiel, aber auch Phil Collins, Robert Fripp, Jaki Liebezeit, Achim Roedelius, Freds Frith und Kurt Schwitters. In Enos Diskografie markiert das Album einen Wendepunkt. Vergangenheit und Zukunft treffen in kompakten 40 Minuten aufeinander, einige seiner besten Songs überhaupt inklusive. Herrmann und Raabenstein hören 40 Jahre später einordnend nach.

Martin Raabenstein: Während in England schon die ersten Punks starben, lange bevor der Begriff hier in der Republik überhaupt massentauglich wurde, bringt Brian Eno ein weiteres Vokalalbum. Seine Spiderweb-Spaghetti-Tolle hat er dafür schon kurz über den Ohren gestutzt, damit man besser höre, was denn da noch so kommt. Zeitgleich sind seine ehemaligen Buddies von Roxy Music auf dem besten Wege, das musikalisch schlimmste Jahrzehnt vorzubereiten, das ich kenne, die Achtziger.

Thaddeus Herrmann: Ich muss mich direkt an dieser Stelle aus ZDF-History ausblenden, weil ich mein Kabel-Abo nicht bezahlt habe. Tut mir leid! Spaß beiseite. Das ist eine sehr unentschiedene Platte, finde ich, zumindest geht sie so los. Da rockt das Honky-tonk und alles klingt so gar nicht nach Punk, sondern vielmehr nach Pub Rock. Das gibt sich zum Glück recht schnell, und dann wird das Album auch für mich interessant oder zumindest interessanter.

Martin: Ich hätte da noch härtere Worte als Pub Rock. Diese Southhampton-Pfadfinder's lustige Wanderlieder sind nie meins gewesen.

Thaddeus: Die ersten beiden Tracks hätten die Jungs damals wirklich weglassen können. „Before And After Science“ finde ich spannend, aber nicht bahnbrechend. Zwei seiner besten Songs aller Zeiten sind hier zu finden, über die sprechen wir bestimmt noch. Man merkt der Platte auch an, dass er parallel bereits an seinen Ambient-Konzepten arbeitete.

„Energy Fools The Magician“

Rewind - Before And After Science - GIF

Martin: Ja, irgendwie wirkt das, als ob es diese Tracks bei Enos Rockprojekt 801 mit Phil Manzanera nicht in den Laster geschaft haben. Aber, da ist noch viel mehr drin, irgendwie lümmelt da auch schon Enos Produzentenhandschrift der ebenfalls zeitgleich entstandenden, ersten Talking-Heads-Scheibe in der Ecke. Ich bin mir da gar nicht sicher, ob diese völlige Divergenz des Albums nicht Programm war.

Thaddeus: Oder auch fehlender Fokus. Die Platte ist über einen für Eno-Verhältnisse damals sehr langen Zeitraum entstanden. Er hat mit zig Leuten zusammengearbeitet, die ihm alle mal in den Sound gekackt haben. Dabei kann ja eigentlich nichts Kohärentes rauskommen. Muss es ja auch gar nicht. Mein Punkt ist: Der Eno, wie er noch heute Musik macht, der schimmert hier genauso durch, wie seine epischen und sehr fragwürdigen Produktionen für U2, James und Coldplay. Ich weiß, das tut weh: Aber das ist der Eno, den ich eher mag.

Martin: Hum, mich erst des heimlichen Fernsehens zu bezichtigen und dann selber klugreden. Ok – nimm das! So nett die Pop-orientierten Stücken aus Enos Hand auch vor sich hin trömmeln, der Herr war immer besser, wenn er mit anderen zusammengearbeitet hat, ob nun Roxy Music, David Byrne, Cluster ...

Thaddeus: Die ja auch hier auf diesem Album am Start sind. Es hält sich wacker das Gerücht, dass Eno das Prinzip Ambient eh nur zollfrei aus Deutschland rausgeschmuggelt und die Planks, Clusters und Liebezeits das einfach nicht mitgeschnitten und sich später fürchterlich darüber echauffiert hätten. Weiß nicht, ob da was dran ist. Also, Herr Knopp, meine übliche Frage an dieser Stelle: Warum ist diese Platte so wichtig?

Martin: Komisch, ich dachte immer, die erste Ambient-Platte sei „No Pussyfooting“ von 1973 mit Robert Fripp, aber nun ja. Lass doch die Deutschen sich ärgern, das tun sie gerne und dann ausgiebig.

Thaddeus: Unbedingt! Hat Satie nicht auch schon Ambient gemacht? Frag’ mal David Toop. Wie sind wir jetzt darauf gekommen? Wir müssen wieder über die Musik reden. „Julie With...“ ist dann also auch ein Track, den du eher so mäh findest? Richtig? Oder habe ich dich und Eno immer noch nicht durchschaut?

Martin: Wir lassen jetzt mal deine Vorlieben für German TV und die schnippischen Querverweise zu mir aus den Augen, ich bin kein Optiker, der dir die richtige Sehschärfe feststellen kann. Würde ich ja gerne, aber, egal. „Julie with...“; „By this river“ und „Spider and I“ sind schon sehr stark auf meiner Wellenlänge. Aber ich bin eher ein großer Fan von „Music For Films“ und wie du schon erwähntest:

Ambient schimmert hier nicht nur durch, sondern wird vielmehr mit Enos typischer Ich-bin-dein-Gesangslehrer-und-sing-dir-den-Text-mal-vor-und-dann-singst-du-das-ordentlich-nach-Dudel kombiniert. Das mochte ich damals schon nicht.

Thaddeus: Tja, puh! Ich dreh’s mal ins Positive. Ähem, Achtung. „Spider and I“ ist für mich absoluter Kanon des Wohlklangs. Es gibt da ja auch diese epochal-fantastische Coverversion von The Hope Blister, die das fragile Gerüst des Originals am Ende in einer breitwandigen Krachorgie zusammenrasseln lässt. Mag ich eigentlich noch lieber, diese Version, aber das Original ist auch fein, weil es schon diese Stimmung der späten 70er atmet, in der die Leute nicht so recht wussten, was sie anziehen sollten.

„Julie With...“

Rewind - Before And After Science - Artwork Peter Schmidt

Der Erstpressung lagen vier Drucke von Bildern von Peter Schmidt) bei, auch dieses hier: „Four Years. Foto: http://www.enoweb.co.uk/, Fair use, Link

„Spider And I“: von Eno ...

... und als Cover von The Hope Blister

Martin: Aber heute wissen sie das?

Thaddeus: Eno schon, denke ich, mittlerweile. Der gibt ja seit geraumer Zeit den streitbaren Denker. Was halten wir davon?

Martin: Gute Frage zu Enos Gedankenwelt. Ich glaube, dass der Meister seine wichtigste Funktion im Beschreiten von alternativen und neuen musikalischen Wegen hat. Das Album „Before and after science“ ist da ein Baustein, es ist so wichtig oder unwichtig wie fast alle seine Produktionen. Der große Bogen hinter all seinem Tun, dieses Bohren in Theorien, gleichzeitig aber auch eine unglaubliche Selbstsicherheit zu wissen, dass man auch mit, entschuldige den Begriff, Kitsch Dinge ausdrücken kann – das finde ich schon schwer beeindruckend.

„Eno ist seelisch obdachlos. Das tut mir leid.“ (Thaddeus)

Thaddeus: Eno, der Denker: schwierig. Ich habe die Linernotes seiner Alben immer sehr genau studiert, aber als eher eso und aus dem Poesiealbum seiner Oma interpretiert als wirklich fundiert. Ich lieg’ damit vielleicht falsch, aber egal. Mein Problem ist, glaube ich, mal wieder die Zeitachse. Als die Platte hier veröffentlicht wurde, war ich fünf. Wann ich sie das erste Mal gehört habe, weiß ich nicht mehr, wann ich sie dann verstanden habe, erst recht nicht. Dass Eno sich aber durchaus kluge Gedanken macht, kann man ja in seinem Tagebuch nachlesen. Das ist doch sehr unterhaltsam und kurzweilig. Ob man daraus ein großes Ganzes machen kann und sollte, wage ich zu bezweifeln. Komisch ist nur, dass Eno heute zum 764. Mal eine Platte mit generativer Musik veröffentlicht, mir diese Platte als iPhone-App für 31 Euro verkaufen will und Trump und den Brexit als Chance betrachtet, gleichzeitig aber nicht mehr über die Vergangenheit reden will. Der ist seelisch obdachlos. Das tut mir leid.

Nur weil einer einen an der Waffel hat, heißt das nicht automatisch, dass er nicht hervorragendes Apfelmus herstellen kann.“ (Martin)

Martin: Wir schweifen herrlich ab, das macht man nicht bei jemandem, der nur langweilt. Ich meinte bei meinem großen Bogen auch eher den inspirierenden Geist, die begleitende, zur Kreation anregende Kraft. Das ist mit Sicherheit eso-gefährdet. Wenn jemand sich in der erwähnten Form über aktuelle politischen Entwicklungen äußert, heißt das ja nicht automatisch, dass er jetzt entsprechend seiner Selbstverwirrungen im Keller mit südjapanischem Speedmetal liebäugelt. Außerdem. Nur weil einer einen an der Waffel hat, heißt das nicht automatisch, dass er nicht hervorragendes Apfelmus herstellen kann.

Thaddeus: Bin ich bei dir, auch wenn wir, und dann ist auch Schluss, noch kurz klären müssen, warum wir diese Platte hier überhaupt ausgewählt haben. Immerhin geht es in der Reihe um die wichtigsten Platten ihrer Jahre – immer subjektiv, sowie klar, aber die goldene Klammer, die fehlt mir gerade noch ein bisschen. Ein kluger Satz vom Chef bitte, dann können wir zum Rotwein übergehen.

Martin: Chef von was, vom ZDF?

Thaddeus: Ich danke Ihnen, Herr Knopp. Ich hole den Wein.

Martin: Den trinkst du wohl alleine, ich bin auf Bier. So klappt das nicht, okay, der kluge Satz. Wir haben eine Gesprächsreihe gestartet, die sich in Jahrzehntsprüngen der Jetztzeit nähert. Vierzig Jahre sind nicht nur eine Menge Holz – da kann einem nach all der Zeit auch ziemlich viel so richtig auf den Sack gehen. Ich bin immer noch der Meinung, dass die Unterschiedlichkeit des Albums aus einem klaren Gedanken entspringt. Vielleicht gab es damals, eher vom Bauch kommend, die Erkenntnis, dass man einen weiten musikalischen Horizont nicht nur mit einem Style, einem Genre abbilden kann. Das wäre dann prä-post-modern, oder nicht? Unbedarfte Spielfreude ist ja auch ein nicht zu unterschätzender Antrieb, hör’ dir doch mal die mitunter schwer albernen Texte an. Und dann noch diese so ganz eigenartigen, völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Country-Gitarrenversatzstücke. Das hat damals keiner so gemacht. Großes, kleines Tennis.

Thaddeus: Vielleicht liegt das Gute und Interessante an der Platte ja tatsächlich im Kleinen. Bedient diejenigen, die ihn von Roxy Music und anderen Projekten schon kannten, zeigt neuen Fans aber auch genau so neue Wege auf. Wer wo lang geht und wie lange, spielt dabei gar keine Rolle. Ausgang: ungewiss. Immerhin reden wir auch 40 Jahre später noch über die Platte. Irgendwas hat er also richtig gemacht, der Brian.

Mehr Brian Eno durch die Raabenstein-Brille gibt es als Mix der Woche bei uns und noch mehr bei Clocktower.

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