Hängengeblieben 2022Unser großer Jahresrückblick

Hängengeblieben 2022 gif

Zweckoptimismus ist und bleibt ein schweres Konzept. Worauf soll man sich überhaupt noch freuen können in diesen Jahren? Oder handelt es sich nur noch um Verwaltung von anachronistischen Restbeständen? Welche Katastrophen stehen für nächstes Jahr in den Startlöchern bereit? Auch dieses Jahr haben wir gelernt: die Realität ist kreativer als jede Satire. Dior kollaboriert mit Birkenstock, Kanye West ist antisemitischer Faschist, in Katar gibt’s kein Bier im Stadion, Peter Fox wird der kulturellen Aneignung bezichtigt – Leute, da geht noch mehr! Wir bleiben unterdessen unermüdlich. Wie immer gibt es auch dieses Jahr unseren großen Jahresrückblick. Mit Mood zur Lücke für positive Highlights und gute Überraschungen. Streng subjektiv und akonsensuell. Wir danken für eure Treue, liebe Leserinnen und Leser für dieses Jahr. Wir sehen uns im nächsten wieder! Kann ja nur besser werden.

18.000 Hz

Mein neuer akustischer, psycho- oder pseudoakustischer, wer weiß es schon so genau, Begleiter seit Anfang des Jahres. Oft da, manchmal weg. Benimmt sich mittlerweile etwas besser und raubt mir nicht mehr Geduld und Verstand. Ist aber wohl gekommen, um zu bleiben. Ihr könnt nichts hören, wenn ihr auf Play klickt? Seid froh. Ich hoffe, dass ich es irgendwann auch nicht mehr muss.

Jan-Peter Wulf

Andrej Kurkow und der Ukraine-Krieg

Kurkows Buch „Picknick auf dem Eis” (2000) ist eines meiner Lieblingsbücher und ich verschenke es immer wieder gern. Der wenig erfolgreiche Literat und Tagträumer Viktor adoptiert aus dem Zoo in Kiew einen Pinguin, weil dieser nicht mehr für die Tiere sorgen kann. (Pinguin Mischa ist leider auch etwas depressiv und liegt am liebsten in der kalten Badewanne.) Seinen Unterhalt verdient Viktor mit dem Schreiben von Nekrologen über noch nicht gestorbene Personen für eine Tageszeitung. Seltsamerweise sterben aber eben jene Personen doch recht schnell nachdem Viktor seine Texte fertig gestellt hat – und so entfaltet sich recht schwarzhumorig, satirisch und melancholisch eine etwas absurde Momentaufnahme der korrupten post-sowjetischen Gesellschaft. Unbedingte Leseempfehlung für die Winterzeit!

Kurkows Buch wurde letztlich von der Realität eingeholt, als in Folge des Ukraine-Kriegs den Tieren im Zoo von Kiew Kälte- und Hungertod drohte. Wie viele ukrainische Autor:innen ruhte auch Kurkows literarische Arbeit und er veröffentlichte journalistische Texte über den Krieg. Im Oktober erschien infolgedessen sein „Tagebuch einer Invasion”.
Kurkow dokumentierte auch seine Flucht auf Twitter mit ähnlichem melancholischen Galgenhumor wie in seinen Büchern, mit dabei im Auto gen Westen sind der Hamster Semyon und Kater Pepin und man ahnt, warum auch immer Tiere eine wichtige Hauptrolle in seinen Büchern spielen. Sein Twitter-Account dient immer noch als Chronik des Krieges, über die Toten, die Angriffe und die unermessliche Zerstörung. Kurkows Arbeit rückt den Krieg wieder präsent in die mediale Wahrnehmung, die nach zehn Monaten russischer Angriffe anscheinend nur noch pflichtbewusst berichtet.

Susann Massute

Daily Tennis

Hängengeblieben 2022 Tennis

Photo by Lucas Davies on Unsplash

Das tägliche Tennis ist mehr als nur Sport und die damit verbundene (wirklich tägliche) Unterhaltung. Auch in diesem Jahr haben die Tennisstars ihr Versprechen gehalten und uns genau dann schelmisch aus unseren Wohnzimmern auf sie herabblicken lassen, als wir es am nötigsten hatten: im scheinbar wieder mal nie enden wollenden Corona Winter. Auftritt Novak Djokovic, das Setting: Australian Open. Obwohl die Hauptkulissen ja der Grenzübergang bzw. das Asylhotel waren.

Vor Beginn der Australian Open hatte Djokovic sich das Visum einschließlich Einreise unter vermeintlicher Sonderregelung gesichert, mit der er auch ohne Covid-19-Impfung einreisen wollte. Dafür hatte Australiens oberster Mediziner ihm eine Impfbefreiung ausgestellt, die anschließend vom unabhängigen Regierungsvorstand des Bundesstaates Victoria abgesegnet wurde. Warum? Die Entscheidung basierte auf Djokovics positivem Covid-Test vom 16. Dezember 2021, der vermeintlich als Impfung zählte. Nicht ganz. Die Wut der Australier:innen war groß, mussten sie doch strikte Lockdowns und Impfpflichten einhalten, die viele Familien über Feiertage trennten oder daran hinderten, an Beerdigungen teilzunehmen. Die Regeln, die für die breite Bevölkerung und Reisende galten, wurden im Großkotztennis kurzerhand ausgehebelt.

Vor Abreise füllte Djokovics Agent am 1. Januar 2022 schließlich die zur Einreise nötige Erklärung aus, in welcher er angab, Djokovic sei in den letzten zwei Wochen vor Einreise in kein anderes Land gereist. Das stimmte nicht ganz, aber dazu später mehr. Am 2. Januar erhielt Djokovic die Erlaubnis, die Grenze des Staates Victorias zu überqueren und flog zwei Tage später von Spanien nach Melbourne, wo er am 5. Januar landete. Am nächsten Tag wurde sein Visum gecancelt, nachdem er acht Stunden vom australischen Bundesgrenzschutz festgehalten wurde. Der Grund? Er wollte seinen Impfstatus nicht preisgeben, eine vorherige Infektion sei kein Ausschlusskriterium für die Impfpflicht. Djokovic wurde kurzerhand auf Monopoly-Weg direkt in ein Einwanderungsgefängnis gebracht, das er mit rund 30 Asylbewerbern teilte. Weltweite Proteste sowohl für als auch gegen den Tennisstar fanden ihren Zenit wohl in Belgrad, wo Djokovics Eltern seine Haft mit Jesus’ Kreuzigung verglichen. Die Ursache seines Größenwahns war damit zumindest gefunden. Fünf Tage später kippte ein Richter die Entscheidung, sein Visum zu canceln und Djokovic machte sich unter den Blicken der Welt auf zum Melbourner Tennisplatz.

Und hier ging die Unterhaltung erst richtig los: Djokovic, so schien es, hatte auf seinem Einreiseformular verschwiegen, vor seiner Abreise von Spanien nach Belgrad gereist zu sein. Und anstatt sich während seiner Covid-Infektion zu isolieren, nahm er weiterhin an Promo-Events teil. Und selbst Djokovics positives Covid-Testergebnis gab Rätsel auf: Als der Spiegel den QR-Code scannte, wurde zuerst ein negatives und eine Stunde später ein positives Ergebnis angezeigt. Auch andere Tennisprofis hatten allmählich genug vom Visa-Drama. Wie Andy Murray erklärte, war es frustrierend, anstatt über Tennis ständig über das Djokovic-Politikum zu sprechen. Spätestens jetzt hatten also so ziemlich alle die Schnauze gestrichen voll davon, dass die Tennis Nummer 1 mit Star-Allüren Covid-Sonderregelungen genoss, während Normalsterbliche über Monate im Lockdown saßen. Minister Alex Hawke entschied sich also am 14. Januar dazu, Djokovic das Visum kurzerhand wieder zu entziehen und ihm damit wohlmöglich den Zutritt nach Australien für mindestens drei Jahre zu verwehren. Djokovic sei ein Talisman „ziviler Unruhen“ und schüre das Impfgegnersentiment. Djokovics Anwälte gingen in Berufung, Serbiens Prätendent Aleksandar Vučić nannte die ganze Sache eine Hexenjagd und sein Außenministerium folgte ihm sicheren Schrittes mit der Aussage Djokovic sei „nach Australien gelockt [worden], um gedemütigt zu werden“. Die Berufung wurde am 16. Januar vom Gericht abgelehnt, Djokovic erhielt den Stiefel und wurde aus Australien abgeschoben. Und auch für 2023 bahnt sich die nächste Kontroverse an: Djokovic soll eine Sondergenehmigung erhalten haben (of course), die ihm die Einreise für das Australian Open 2023 erlaubt. Denn mehr als Sport ist das Daily Tennis ja vor allem eines: Unterhaltung.

Julia Kausch

Desmond Tutu

Hängengeblieben 2022 Desmond Tut

Foto: Julia Kausch

Südafrikas „naughty Uncle“ zählte zu den bekanntesten Menschenrechtsaktivisten und Geistlichen des Landes. „Freude“, so erklärte er während einer albernen Audienz mit dem Dalai Lama, „ist viel größer als Glücklichsein. Während Glück oft von äußeren Umständen abhängig gemacht wird, ist Freude genau das nicht.“ (The Book of Joy, S. 3). Für seinen Kampf gegen Apartheid und für Gleichberechtigung und universelles Recht auf Bildung in Südafrika, erhielt er 1984 den Friedensnobelpreis. Nur zwei Jahre später wurde er zum ersten schwarzen anglikanischen Erzbischof ernannt. Gewitzt hielt er Nelson Mandelas Arm hoch, während dieser zum ersten Präsidenten des demokratischen Südafrikas gewählt wurde. Tutu begleitete Mandelas Vorhaben zur Einigung Südafrikas als Vorsitzender der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die ein Zusammenführen des Landes zum Ziel hatte.

Während seiners Amtszeit wurde bei Tutu Prostatakrebs diagnostiziert, der ihn über die nächsten Dekaden bis zu seinem Tod am 26. Dezember 2021 begleitete. Während seiner Lebenszeit stellte er immer wieder unter Beweis, dass Gleichberechtigung unter allen Umständen möglich ist und auf weder Hautfarbe noch sexuelle Orientierung basieren darf. Seine Tochter Mpho Tutu, ebenfalls eine Geistliche und anglikanische Priesterin, heiratete ihre Freundin Marceline van Furth, woraufhin ihr recht unzeremoniell alle kirchlichen Titel entzogen wurden. Desmond Tutu konterte wie immer gewitzt: Er würde sich weigern in einem homophoben Himmel zu landen. Seine Beerdigung fand am 1.Januar 2022 im kleinen familiären Kreis statt. Und auch im Tod konnte er uns noch etwas lehren: Anstatt einer normalen Einäscherung wurde Tutus Körper durch alkalische Hydrolyse im „Aquamation“-Prozess, der weitaus umweltfreundlicher ist, mithilfe von Wasser zu Staub zersetzt. Zu seinen Ehren erstrahlte der Tafelberg für eine Woche mit lilafarbenem Licht.

Julia Kausch

Deutscher Humor

Ob ein Wortwitz gut oder schlecht ist, darüber lässt sich bekanntlich streiten. Es hieß zwar in den Nullerjahren schon, dass Wortspiele ziemlich 90er sind und eigentlich in die Tonne gehören. Aber Trends kommen ja gerne wieder. Heute ist diese Art des Flachwitzes, den man sonst von schlechten Werbungen kennt, zum Nonplusultra für Podcast-Betitelungen geworden. Jeden Tag gibt es neue Formate, und um sich da sichtbar zu machen, braucht es scheinbar cringe Wortwitze, die teils so gewollt sind, dass sie das Humorlevel einer Grundschulklasse haben. Ob solche Namen Rückschlüsse auf die Qualität der Inhalte erlauben? Eine Auswahl:

Knäckebrot und Peitsche
Zuckerbrot und Kneipe
Dramasutra
Eulen vor die Säue
Yps! I did it again
Size Egal
Split Happens
Unbeflecktes Verhängnis
Ball You Need Is Love
Hoppe Hoppe Scheitern
Mama Lauda
Mit den Waffeln einer Frau

Ji-Hun Kim

Digitalisierung

Hängengeblieben 2022 Digitalisierung

Foto: Thaddeus Herrmann

2022 habe ich mit der Berliner Verwaltung gekuschelt. Es war auch nicht mehr tragbar, so ganz ohne gültige Ausweispapiere. Dass ich den Termin im Bürgeramt Neukölln ergattert habe für die neue Beantragung von Personalausweis und Reisepass, war schon fast ein Wunder. Die Gespräche mit den Türstehern erhellend. Dass ich mit Karte bezahlen konnte, wohl eher ein seltener Glücksfall. Mit dem Perso, bzw. seinen „digitalen Features“ kann ich Stand heute in Berlin praktisch gar nichts anfangen. Irgendwas mit Autos und Gewerbeummeldung, ja. Alles Weitere? Eher nicht. Auch wenn ich bass erstaunt war, dass ich die Plastikkarte tatsächlich mit meinem iPhone „koppeln“ konnte. Ich stelle mir das witzig vor. Wie jemand vom Bund bei Apple anruft und fragt: „Ja, also, Stichwort NFC. Ist ja doll, was ihr da mit ApplePay macht, aber die BRD würde schon auch gerne Zugriff auf diese Schnittstelle haben. Digitalisierung und so. Kommen wir da zusammen?“ Zum Status-Update in punkto Digitalisierung in Deutschland empfehle ich das zweiteilige Sommer-Special des Podcasts „Lage der Nation“. Aber ich bin nicht hier, um Dinge scharf zu kritisieren à la Ulf Buermeyer. Ich bin hier, um zu berichten, dass die Meldungen zum „Warntag“ am 8. Dezember tatsächlich in meine digitale Privatsphäre vordrangen. Überpünktlich, um 10.59 Uhr, kam die Cell-Broadcast-Nachricht. Ich hatte Stöpsel in den Ohren, das Telefon vibrierte heftig und meine Apple Watch gab alles am Lautsprecher. Und: Auf den digitalen Werbetafeln verschwand Julia Roberts und ihr Testimonial für irgendeine Haarfärbe-Geschichte. Allein das war schon toll. So richtig digital ist das immer alles noch nicht. Dass Cell Broadcast – eine wirklich irre alte Technologie – nach der Flut im Ahrtal ein Revival in Deutschland erfährt (aber auch nur auf neuen Telefonen mit aktuellem Betriebssystem funktioniert), fasst die Situation ganz gut zusammen. Anderswo ist man da viel weiter, bzw. hat nie versucht, ein verlässliches System durch Apps und Push-Benachrichtigungen zu ersetzen. Aber anderswo laufen solche Systeme auch nicht auf Servern, die sich für 1,99 pro Monat mieten lassen.

Thaddeus Herrmann

Dirty Tequila Martini

Damit ihr 2023 nicht mehr diesen grässlichen Espresso Martini trinken müsst.

6 cl Tequila 100% Agave
1,5 cl Olivenlake (das Wasser aus dem Olivenglas)
1 cl trockener Wermut
2-3 Spritzer Cocktailbitters
Garnitur: grüne Olive
Glas: Martiniglas

Alle Zutaten mit Eis in einem großen Glas (Rührglas, Latteglas) eiskalt rühren und danach durch ein Sieb ins Martiniglas abseihen. Mit einer grünen Olive garnieren.

Jan-Peter Wulf

Eisbergsalat

Der Eisbergsalat war vor Jahren mal wirklich angesagt. Er hatte in hiesigen Küchen quasi den labbrigen deutschen Kopfsalat abgelöst. Aber so wie es mit Food-Trends ist, wurde auch der Eisbergsalat irgendwann plump und ordinär. Stattdessen sind es heute eher Rucola, Feldsalat, Spinat und bunte Wildsalate, die angemacht werden. Dieses Jahr hatte der Eisbergsalat eine unerwartete Renaissance. Allerdings eher im politischen Bereich und weniger kulinarisch. Die britische Boulevardzeitung The Sun machte sich einen Spaß daraus, indem sie wettete, ob die Premierministerin Liz Truss länger im Amt durchhalten würde, als ein Salatkopf seine Form behielt. Eigentlich schon ziemlich frech. Aber in England ist man mittlerweile kurze Regierungsepisoden gewohnt, daher schien das im Land der Wetten durchaus legitim. Der Eisbergsalat wurde mäßig glamourös per Livestream inszeniert und nach nur sechs Wochen Amtszeit konnte wirklich verkündet werden, dass der Eisbergsalat den Kampf gewonnen hatte. Was aus dem Salat wurde, ist uns nicht bekannt.

Ji-Hun Kim

Eurobasket-Viertelfinale Deutschland gegen Griechenland

Auch wenn ich kein großer Freund von Nationalspielen bin: Das Basketballspiel Deutschland gegen Griechenland wird für immer eine Legende sein. Das vielleicht beste Spiel, das ich außerhalb der NBA jemals gesehen habe. Eine erste Halbzeit mit traumhaften Dreipunktwürfen, einer höchst unwahrscheinlichen Trefferquote und einem Buzzer Beater von Kostas Sloukas – von der Mittellinie. Die Zusammenfassung im Video kann die Sensation nur schwerlich vermitteln, man muss live dabei gewesen sein und ich ärgere mich im Nachhinein, dass es nur live am Fernseher war und nicht anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt in der Halle. Ganz großer Sport.

Jan-Peter Wulf

Everything Everywhere All at Once

Mein Filmhighlight des Jahres: Science Fiction, Familiendrama, Komödie und Action in einem chaotischen Multiversumsepos. Die umwerfende Michelle Yeoh spielt Evelyn Wang, Waschsalon-Besitzerin, die Ärger mit dem Finanzamt, ihrem Ehemann Waymond und ihrer Tochter Joy hat. Auf dem Weg ins Finanzamt erfährt sie plötzlich von einem Waymond aus einer anderen Dimension, dass das Schicksal des gesamten Multiversums von ihr abhängt. Evelyn zieht ungemeine Stärke aus ihrem vermeintlich gescheiterten Lebensentwurf und versucht gleichermaßen alle Parallel-Universen und die Beziehung zu ihrer Tochter zu retten. Viel mehr möchte ich gar nicht verraten, denn der Film hält so viele witzige, abgedrehte und absurde Überraschungen in einem unfassbaren Tempo bereit. Von Hotdog-Händen bis zu kämpfenden Steinen ist alles dabei.

Susann Massute

Everything ok in the UK?

England hatte es 2022 wirklich nicht leicht. Boris Johnson, der ja schon länger als britisches Pendant zu Donald Trump gehandelt wurde, machte den Auftakt: Als erster Premierminister jemals musst er sich des Gesetzesbruchs verantworten als herauskam, dass er während des Covid-Lockdowns BYOB-Partys in Downing Street veranstaltete– also „bring your own booze“-Partys, die man eher von Geizhals-Geburtstagen kennt. Saufgelage, pornoschauende Abgeordnete und sexuelle Belästigung junger Teenager verhalfen schließlich zum passenden Boybandtitel des Houses of Parliament: „Tory Sleaze“. Zwar entging Johnson im Juni knapp einem Misstrauensvotum, vor der Welle an Rücktritten im Juli konnte ihn jedoch keiner retten. Christ Pincher machte den Anfang, als sexuelle Missbrauchsvorwürfe von mehreren Seiten lauter wurden, von denen auch Johnson gewusst haben soll. „Pincher by name, pincher by nature“ soll Johnson da noch gewitzelt haben. Dass das selbst in einer parlamentarischen Monarchie nicht mehr ganz zeitgemäß ist, sollte klar sein. 50 weitere Mitglieder traten in den kommenden 48 Stunden zurück und am 6. September endlich auch Johnson. Seine letzten Worte hallen wie Fingernägel auf der Schultafel nach: „Unser brillantes und darwinistisches System wird einen weiteren Anführer hervorbringen“. Und wo wir gerade bei veralteten Denkansätzen sind ist da natürlich noch die Monarchie. Denn 2022 schrieb auch das Jahr, in dem Queen Elizabeth II ihr 70. Thronjubiläum feierte. Vielleicht war Boris Johnson auch für die Queen zu viel, denn nur zwei Tage nach seinem Rücktritt verstarb sie in Balmore Castle. Das Land war in Aufruhr, natürlich, denn trotz der vielen mindestens fragwürdigen Premierminister (vergessen wir nicht Margaret Thatcher oder Tony Blair) galt die Queen als ewige Konstante, die England stets winkend durch Kriege und Krisen begleitete. Und auch die neue Premierministerin Liz Truss konnte hier kein Pflaster auf die klaffende Wunde drücken, die die Queen trotz rassistischer Vergangenheit, ihrem sexuell übergriffigen Sohn Randy Andy (ehemals Prince Andrew) und natürlich dem tragischen und von unzähligen Verschwörungstheorien umgebenen Tod von Lady Di zurückgelassen hat. Die Frage der Nation: Wird Liz Truss länger durchhalten als dieser frische Salatkopf? Die Antwort folgte nach nur sieben Wochen: nein. So richtig gut lief es eigentlich nur für Meghan und Harry, die den Rechtsstreit gegen die englischen Boulevardzeitschriften gewannen und ihren Hollywood Fame weiter ausbauen konnten. An „God Save the King“ muss sich 2023 wohl auch England noch gewöhnen.

Julia Kausch

Götterdämmerung

Die letzten zehn Jahre waren von vermeintlich gottgleichen Übermännern geprägt. Je massiver der Größenwahn und Selbsteinschätzung desto erfolgreicher waren jene Individuen. Im Jahr 2022 sind allerdings einige dieser Götter übelst über ihren eigenen Schleim gestolpert, und ob sie sich davon erholen werden können, bleibt fraglich. Wahrscheinlich ist das auch gut so. Endlich mal sauber kehren die ganze Scheiße. Fußballstar Cristiano Ronaldo fand sich noch mit 37 andauernd so geil und alpha, dass er binnen weniger Wochen von seinem Verein Manchester United gefeuert wurde, auf die Reservebank der portugiesischen Nationalmannschaft abgeschoben und dann in Tränen getränkt Katar verließ und so bedeutungslos wurde, dass es selbst den Medien zu langweilig erschien, zu fragen, was er denn in Zukunft so machen würde. Kanye West, ebenfalls von Beruf Größenwahnsinniger, hat im Vergleich zu Ronaldo ja nicht mal Talent und hat sich ebenfalls in diesem Jahr schneller abgeschossen als Luftgewehre Plastiksterne in der Kirmes. Antisemitimus, Pullis mit „White Lives Matter“, Holocaust-Leugnung und Abfeiern von Adolf Hitler – das ließ nicht nur millionenschwere Deals mit Adidas und Balenciaga platzen, auch wird nun die ganze Welt erfahren müssen, was wir hierzulande mit so unwürdigen Gestalten wie Wendler und Attila Hildmann in den letzten Jahren ertragen mussten. Nicht zuletzt haut sich derzeit der ehemals reichste Mann der Welt, Elon Musk, seinen Sockel eigenhändig krümelig. Läppische 44 Mrd. Dollar für Twitter ausgegeben, nur damit sein Ego unantastbar bleibt. Nun steht nicht nur Twitter vorm Ende, sondern auch alle anderen Firmen, die er einst groß gemacht hat. Teslas Aktien purzeln im Preis, aber auch die Zukunft von SpaceX, Boring Company und Neuralink ist ungewiss. Ist ja auch grade kein Chef da, der sich darum kümmern könnte.

Ji-Hun Kim

Gute Zeichen, schlechte Zeichen

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Im Fall der deutschen Fußballnationalmannschaft ist das so: Hätte sie die One-Love-Binde getragen, dann wäre sie vermutlich von der Fifa bestraft worden. Hätte sie zum Beispiel einen Punktabzug in der Vorrunde bekommen, dann wäre sie nach der Vorrunde eh rausgeflogen, aber wenigstens mit Ausrufezeichen. So verirrte sich die DFB-Elf in einer Mund-zu-Aktion. Da gab es schon deutlichere …, genau. Und überhaupt: Der Hintergrund eines selbigen ist oft leicht nachvollziehbar. Spannender ist es zu beobachten, wann es gesetzt wird und in welcher Form. Gar nicht so einfach.

Matti Hummelsiep

Handy-Karaoke – Apple Music Sing

Hängengeblieben 2022 Handy Karaoke

Ich war auf vieles vorbereitet. Dass mein Telefon nun aber auch noch zur Karaoke-Maschine wird, konnte ich mir nicht vorstellen. Wollte ich auch nicht. Doch kurz vor knapp (Jahresende) kommt der Streaming-Dienst meiner Wahl mit diesem Feature um die Ecke. Ein neuer Schieberegler im Interface regelt die Vocals runter und ich kann steilgehen. Bisschen unangenehm, im Sinne von peinlich. Aber mir schaut ja niemand zu. Wie der Gesang so schrittweise wegmumpft, ist nicht so schlecht. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie das alle Rechteinhaber:innen so toll finden. Ein Hoch auf den Kapitalismus. Funktioniert auf jeden Fall ausreichend gut. Natürlich sollen Karaoke-typisch die Lyrics Silbe für Silbe mitwandern auf dem Display, so wie wir es aus den Karaoke-Bars eben kennen. Bei einigen Songs funktioniert das schon, bei anderen noch nicht. Und die Takt-genaue Anzeige von Liedtexten bei Apple Music ist eh noch nicht katalogweit ausgerollt. Meinem Verständnis nach muss das proaktiv umgesetzt werden. Kostet ja auch wieder Geld. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Ich fahre über den Jahreswechsel aufs Land. Vielleicht melde ich mich mit einem Hands-on im Januar.

Thaddeus Herrmann

Handy-Verbot

handy Verbot HG 2022

Photo by Noiseporn on Unsplash

Heutzutage Handys auf Konzerten zu verbieten, ist in etwa so sinnvoll wie den Bayern das Bier nach Feierabend absprechen zu wollen. Es ist nicht gut für die Stimmung. Mittlerweile werden Konzerte so inszeniert und ausgeleuchtet, damit sie gerade auf sozialen Medien gut aussehen und die Taschenlampe hat das gute alte Feuerzeug bei Großveranstaltungen abgelöst. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber permanent Videos zu drehen, lenkt dann doch ab, und so wie es sich große Clubs mit Rang und Namen erlauben können, Smartphone-Verbote auszusprechen, machte es auch die Über-Rockband Tool dieses Jahr in der Mercedes-Benz-Arena, die gar mit Rausschmiss drohte, wenn man sich nicht an diese Regel hält. Dass das bei einer Halle mit 17.000 Menschen in der Praxis tatsächlich funktionierte, hat mich überrascht. Klar, braucht es einen kultischen Status wie bei Tool, dass das Gros mitmacht. Vielleicht auch ein in den 80ern und 90ern geschultes Publikum, das zumindest eine Vorstellung davon hat, was ein Offline-Leben ist. Die Energie, die bei diesem ohnehin grandiosen, weltbewegenden Konzert entstand, war unbeschreiblich. Ein, zwei Mal packte ich das Telefon aus, um heimlich ein Video aus der Hosentasche für die Daheimgebliebenen zu machen, so wie man früher heimlich auf dem Flughafen geraucht hat. Aber so gut wie eine Zigarette auf dem Airport-Klo schmeckt, war die Handy-Experience auf dem Konzert. Natürlich sind die Clips nichts geworden und wertvolle Minuten des tollen Konzerts sind auch noch draufgegangen, die ich einfach hätte genießen können.

Ji-Hun Kim

Hoffnung (1): Chromatics – Famous Monsters

Mit Popmusik bin ich manchmal erschreckend langsam in der Rezeption. Chromatics. Habe ich nie wahrgenommen. Bis mir an einem kalten Februar-Vormittag ein OKCupid-Date ihr iPhone ans Ohr drückte und mir „Famous Monsters“ vorspielte. Track? Super. Lyrics? Noch besser. Ich vertiefte mich in den folgenden Tagen in die L.A.-Romane von Bret Easton Ellis und fühlte alles. „Silhouette? Cigarette.“ Danke dafür. Schade, dass du nicht mehr da bist.

Thaddeus Herrmann

Hoffnung (2): Djivan Gasparyan – 7th December 1988

Abende auf dem Balkon vom Kollegen und vor allem Freund Kristoffer Cornils sind immer ein Highlight. Als jemand, der im 7. Stock aufgewachsen ist, haut mich der Blick aus seinem Apartment im 15. Stock immer noch um. Wir kamen zusammen, um den Geburtstag unseres gemeinsamen Kollegen und vor allem Freundes Christian Blumberg mit einem Dinner nachzufeiern. Es war schon kühl geworden, der Spaghettikürbis brutzelte im Ofen, der Wein floss und irgendwie kam das Gespräch auf Djivan Gasparyan. Worüber Musik-Menschen halt so sprechen! Wir waren kurz falsch und doch mehr als richtig abgebogen. Die Musik von Gasparyan entdeckte ich in den 1990er-Jahren, als ich als Getriebener dem Werk von Brian Eno hinterher jagte und zwangsläufig bei All Saints Records landete. Dort hatte sich das A&R-Department wie auch immer die Lizenzrechte für Stücke des armenischen Duduk-Spielers gesichert. Zwei Alben erschienen dort. Heute gibt es im Streaming zahlreiche weitere Aufnahmen. Ich bleibe bei diesen beiden Alben. So deep ist kein House. Unfassbar gut. Gasparyan starb am 6. Juli 2021.

Thaddeus Herrmann

Hoffnung (3) – Severance (AppleTV+)

Schon wieder late to the party. Schon wieder überwältigt. Als ich Ende November grippös auf dem Sofa komate, schaute ich endlich mal „Severance“ durch, die Apple-Serie, von der gefühlt seit immer schon alle schwärmen. Was für ein Ritt! Die innenarchitektonische Ästhetik der untergrundigen Innenräume, die konfus-absurde von der Timeline abgekoppelte Timeline, das Paradigma der Parallel-Universen, der Style von Adam Scott und Britt Lower, die Neonleuchten, die Handys mit Antenne, die CRT-Computer, die Bedrohung: Die wirklich dystopische Dystopie der Gegenwart bzw. Zukunft bzw. Vergangenheit löste in mir ein mitfühlendes Mitfühlen aus, das William Gibson in meinem Kopf nie zustande bringen konnte. Gut. „Peripheral“ habe ich noch nicht geschaut, der Roman war einer seiner besseren. Am Ende der ersten Staffel war ich einigermaßen perplex, dass die second season noch gar nicht verfügbar ist. Himmel, yeah, will ich wissen, wie das alles weitergeht.

Thaddeus Herrmann

Hoffnung (4) – Severance (DCD)

Kein Kommentar.

Severance, the birds of leaving call to us, yet here we stand endowed with the fear of flight.

Overland zhe winds of change consume the land, while we remain In the shadow of summers now past.

When all the leaves have fallen and turned to dust, will we remain entrenched within our ways.

Indifference, the plague that moves throughout this land, omen signs tn the shapes of things to come.

Tomorrow's child is the only child.

Thaddeus Herrmann

Hong Sangsoo

Hong Sangsoos Filme zeichnen sich dadurch aus, dass sie untereinander formal und inhaltlich große Ähnlichkeit aufweisen, man von ihm also quasi immer wieder denselben Film bekommt, und dass das Spiel mit der Differenz trotzdem jedes Mal eine entscheidende Rolle spielt.

Das Jahr begann für den südkoreanischen Auteur wie gewohnt. The Novelist's Film wurde bei der Berlinale mit einem Preis bedacht. Diese Ehre wurde zuvor auch schon 2021 Introduction und 2020 The Woman Who Ran zuteil, und trotzdem erhärtet sich der Eindruck, als wäre 2022 das Jahr, in dem Hong Sangsoo endgültig die Anerkennung erhält, die viele Fans und Teile der internationalen Filmkritik sich bereits seit Jahren für ihn wünschen. Dies lässt sich unter anderem daran ablesen, dass nach Retrospektiven in New York und Los Angeles momentan auch noch eine komplette Werkschau mit allen 28 Langfilmen sowie drei Kurzfilmen im Wiener Filmmuseum zu sehen ist. Darüber hinaus ist mit „Tale of Cinema“ von Dennis Lim und „Das lächerliche Ernste“ von Sulgi Lie sowohl eine englischsprachige als auch eine deutschsprachige Hong-Monografie erschienen. Währenddessen hat der notorisch produktive Meister bereits einen weiteren Film mit dem Titel Walk Up fertiggestellt. Es bleibt dann also doch alles beim Alten.

Tim Schenkl

House und Chart-Pop

House und Deephouse feierten dieses Jahr eine Art Auferstehung im Mainstream. House war nie wirklich weg. Aber im Clubkontext war House die letzten Jahre immer unbedeutsamer geworden. Die Kids wollen halt gerne ballern – und das verstehe ich nur allzu gut. Es waren also Drake und Beyoncé, die mit zwei Chart-Produktionen sich am gepflegten Dancefloor abarbeiteten. Der einen (Beyoncé) gelang es besser als dem anderen (Drake). Zur großen Wiedergeburt, wie es Beyoncé mit „Renaissance“ in Anspruch nahm, hat es aber doch nicht erreicht. So ist es halt immer, wenn Superstars Subkultur spielen. Ob sich House davon erholen kann, oder ob das vorerst ein finaler Dolchstoß gewesen ist. Wir werden sehen.

Ji-Hun Kim

Hunger

In Berlin-Kreuzberg gibt es viele Kirchen. Die meisten stehen während der Woche leer, nicht alle Tage allerdings. Immer öfter werden sie jetzt als Ausgabestellen von Lebensmitteln genutzt. Die Kirche in der Yorkstraße ist so eine Anlaufstelle für Menschen in Not. Auch für die, die neu sind in Berlin, für Menschen aus der Ukraine.
Sie stehen immer dienstags in einer langen Schlange und bitten um Nahrung. Ich gehe an ihnen vorbei, spreche einige an und sie erzählen von ihrer Not. Sie reden einfach, ich verstehe sie kaum oder gar nicht. Die meisten leben wohl erst seit kurzer Zeit in Berlin. Aber dass ihnen hier in der Kirche Lebensmittel geschenkt werden – einfach so – das finden alle toll. Eine junge Frau hat schon ein paar geschenkte Lebensmittel in ihrem Beutel. In der Hand hält sie einen kleinen Kürbis. Sie kennt so ein Gemüse nicht und schenkt es gleich weiter. Ein älterer Mann berichtet von seiner Tochter, die noch in Kiew lebt. Er macht sich Sorgen um sie. Dann zieht er ein Taschentuch aus der Hosentasche und weint.

Die Warteschlange vor der Kirche ist noch länger geworden Auch einige Deutsche warten jetzt auf Lebensmittelspenden. Es sind junge und alte, ganz normale Leute, die in Kreuzberg leben. Was sie eint, ist die Armut. „Wenn der Monat zu Ende geht und die Rente oder das Geld vom Job-Center noch nicht auf dem Konto ist, wird es kritisch“, sagt ein junger Mann. Ob die von der Berliner Tafel gespendeten Lebensmittel für alle in der Warteschlange reichen? Die Frage stellt sich jedes mal für die Armen, die hier auf Nahrung warten. Ich mache mich auf den Weg zur U-Bahn und erlebe Menschen, die auch in der Warteschlange stehen. Sie haben auch Hunger, leisten sich aber Currywurst mit Pommes, einen Döner oder auch zwei. „Klar ist das alles teuer, aber ich habe Hunger“, sagt ein Mann.

Monika Herrmann

Hybride Musiken

Ich finde es gleichermaßen albern und wunderschön, wenn Menschen von Musik im Plural sprechen. „Musiken“ zu sagen klingt zweifelsfrei akademisch-prätentiös, zugleich aber ist es doch nur richtig und wichtig. Denn nicht nur gibt es verschiedene Musikstile, sondern auch gänzlich unterschiedliche Verständnisse von und Herangehensweisen an Musik. Interessant wird es immer dann, wenn sehr unterschiedliche zueinander finden, auch weil es Aussagen über den Zeitgeist (oder: die Zeitgeister?) wie auch zeitgenössische Produktions- und Rezeptionsbedingungen erlaubt. Nehmen wir beispielsweise das Album „Half Moon Bay“ von Tomu DJ, das körnige Ambient-Flächen mit Footwork-Geratter oder Reggaetón-Grooves zusammenbringt. Das Ergebnis ist keine Synthese, sondern ein Kontrastprogramm – hybride Musik, die aus zwei unterschiedlichen Musiken besteht. In diesem Fall ist das vielleicht eine erwartbare Entwicklung der Pandemiejahre, in der all things dance music per medialer Zuschalte immer und ständig präsent waren und die musikalische Untermalung der Realräume auf andere Art wichtig wurde. Eine ebenfalls hybride und doch ganz andere, auf verschiedenen Musiken basierende Musik bietet sich auf Naphtas Album „Żałość“ an. Das Zusammenspiel von tradierten Formen und elektronischer Musik, polnischer Folklore und bristolischen Bässen eröffnet umso mehr soziale und politische Kontexte, weil der Produzent keine Einheit dieser Musiken behauptet, sondern vielmehr den hybriden Charakter ihres Miteinanders herausstellt. Ich bin in diesem Jahr über einige Beispiele gestolpert, die wie Tomu DJ disparate Erfahrungsweisen oder wie Naphta diskrete Traditionen gegeneinander verschoben. Zum einem Jahrestrend würde ich das dennoch nicht hochjazzen. Zumindest nicht im Singular.

Kristoffer Cornils

Klopotenko

Foto: Redaktion

Ievgen Klopotenko

Erfolgreicher Koch, Gastronom, Beau, Instagramstar – Ievgen Klopotenko hat alles, was es braucht, um „der neue Jamie Oliver“ zu werden, als der er schon bezeichnet sind. Vermutlich ist ihm das aber gerade scheißegal, denn seit fast einem Jahr fallen Bomben auf sein Land. Sein Restaurant „100 rokiv tomu vpered“ blieb trotz Krieg fast die ganze Zeit geöffnet. Es gilt als erste Adresse für die traditionelle Küche des Landes welche von den Sowjets nahezu ausgelöscht worden ist und nun so langsam zurück ins kulturelle Gedächtnis der neuen Generation kehrt. Klopotenko hat sogar expandiert und in diesem Jahr zwei Bistros eröffnet, in den westukrainischen Städten Lwiw und in Iwano-Frankiwsk. Hier kommt in den Topf, was gerade da ist. Versorgt werden dabei auch viele Geflüchtete versorgen – jede*r zahlt, was und falls er/sie kann. „Ukrajina: Eine kulinarische Liebeserklärung an die Ukraine“ heißt sein kürzlich erschienenes Kochbuch, der Gewinn geht an die Hilfsorganisation Ukraine Now. Und wenn ihr auf das Time-Cover schaut: Neben der zu erwartenden Person des Jahres ist auch der Koch zu sehen.

Jan-Peter Wulf

KI und Kreativität

Über Künstliche Intelligenzen sprechen alle schon seit Jahren. 2022 war dann aber doch ein besonderes Jahr. Auch weil im End-User-Bereich deutlich wurde, was alles mit diesen Plattformen möglich ist. Für Furore sorgten die Bildmaschinen DALL-E 2 und Midjourney, die auf Basis von Prompts erschreckend gute Bilder erschufen und die berechtigte Frage aufbrachten: Was braucht es heute überhaupt noch für Kunst und wer ist Urheber eines solchen Bildes? Die App Lensa wird derzeit fleißig genutzt, auch weil sie gekonnt Narzissmen der Community bespielt. Dass sie dabei nicht selten ungefragt sexistische (Nackt-)Bilder produziert, ist ein weiteres Zeichen für die Bias, die in solchen Systemen noch immer inhärent ist – und vielleicht auch immer bleiben wird. Das Sprachprogramm Chat GPT soll laut Community nicht nur das Ende von Suchmaschinen à la Google bedeuten, sondern auch das Ende von akademischen Haus- und Abschlussarbeiten. So dramatisch sollte man das vielleicht noch nicht sehen. Weil brillant sind die Texte noch lange nicht (siehe „Künstliche Intelligenz – auf ein Bier mit ChatGPT“). Aber ja, das Produzieren von Content durch KI wird die nächsten Jahre zweifelsohne anders werden. Auch im Bereich Musik komponieren Algorithmen Musik, die manchmal kaum von menschengemachter Musik zu unterscheiden ist. Das sind also sehr sehr mächtige Werkzeuge, die in unsere Hände gelangen. Künstlerische Produktion wird noch weniger vom Handwerk geprägt sein. Dafür werden andere Faktoren eine Rolle spielen. Kreativität gehört dazu. Emotionen und Humor ganz bestimmt auch. Außerdem hat der Mensch in der Kunstgeschichte immer wieder Ausdrucksmittel gefunden, die Maschinen ihrer Zeit eben nicht hinkriegen. So wie die abstrakte Malerei eine Reaktion auf die Fotografie gewesen ist. Wie diese Ausdrucksformen aussehen, klingen und wirken werden – das ist die zentrale Frage, die sich Kunst, Kultur, Medien und Musik zu stellen haben.

Ji-Hun Kim

Künstliche Intelligenz – auf ein Bier mit ChatGPT

Hängengeblieben 2022 ChatBot

Photo by Alex Knight on Unsplash

Was ist ein Filter?
Ein Filter ist eine Art von Gerät oder System, das bestimmte Teile eines Materials oder einer Flüssigkeit von anderen trennt oder herauszieht. Filters können auf viele verschiedene Arten funktionieren, aber im Allgemeinen nutzen sie die Größe oder andere Eigenschaften von Teilchen oder Molekülen, um sie aus einer Mischung herauszufiltern. Ein Beispiel für einen Filter wäre ein Kaffeebereiter, bei dem das heiße Wasser durch einen Filter aus Papier oder Stoff geleitet wird, um die Kaffeebohnen von dem koffeinhaltigen Getränk zu trennen.

Und das Filter?
Ich bin mir nicht sicher, was Sie meinen. Können Sie bitte etwas genauer beschreiben, was Sie mit "das Filter" meinen? Ohne weitere Informationen kann ich Ihnen leider keine Antwort geben.

Das Filter in einem Synthesizer
In einem Synthesizer ist ein Filter ein elektronisches Bauteil, das verwendet wird, um bestimmte Frequenzen des Klangsignals zu unterdrücken oder hervorzuheben. Filters können verwendet werden, um den Klang des Synthesizers zu formen und zu verändern, indem sie die Höhen, Mitten und Tiefen des Signals beeinflussen. Es gibt verschiedene Arten von Filtern, wie zum Beispiel Hochpass-Filtern, Tiefpass-Filtern und Bandpass-Filtern, die jeweils unterschiedliche Effekte auf den Klang haben. Filters können auch in Kombination mit anderen Klangeffekten verwendet werden, um noch vielfältigere Klangfarben zu erzeugen.

Was bedeutet das für den Journalismus?
Da Sie nicht angegeben haben, inwiefern das Thema "Filter" im Zusammenhang mit dem Journalismus steht, kann ich Ihnen leider keine spezifische Antwort geben. In der Regel ist der Begriff "Filter" im Zusammenhang mit dem Journalismus jedoch nicht gebräuchlich. Es ist jedoch möglich, dass Sie sich auf die Verwendung von Filtern in der Nachrichtenverarbeitung beziehen, bei der bestimmte Informationen aus einer großen Menge von Daten herausgefiltert werden, um eine relevante Nachrichtenmeldung zu erstellen. Wenn dies der Fall ist, kann ich Ihnen sagen, dass die Verwendung von Filtern in der Nachrichtenverarbeitung eine wichtige Rolle spielt, um sicherzustellen, dass nur die wichtigsten und relevantesten Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.

Kennst du dasfilter.com
Ich bin eine künstliche Intelligenz und habe keine Fähigkeit, Webseiten im Internet zu durchsuchen oder zu kennen. Mein Wissen ist auf die Antworten auf die Fragen beschränkt, die mir gestellt werden. Daher kann ich Ihnen leider nichts über dasfilter.com sagen.

Willst du dasfilter.com kennenlernen?
Da ich eine künstliche Intelligenz bin und nicht über die Fähigkeit verfüge, Webseiten im Internet zu durchsuchen, ist es mir nicht möglich, dasfilter.com kennenzulernen. Meine Funktion ist es, auf Fragen zu antworten, die mir gestellt werden, und ich kann Ihnen daher leider keine Informationen über dasfilter.com geben.

Ok, wie alt bist du?
Ich bin eine künstliche Intelligenz und habe kein Alter im traditionellen Sinne. Ich wurde von OpenAI trainiert und wurde im Laufe der Zeit immer besser darin, auf Fragen zu antworten und menschenähnliche Konversationen zu führen. Mein Wissensstand wurde auf den Stand zum Zeitpunkt meiner letzten Aktualisierung festgelegt, und ich kann daher nicht alterieren oder mich verändern. Mein Zweck ist es, Ihnen bei der Beantwortung Ihrer Fragen zu helfen und Ihnen bei Bedarf Informationen bereitzustellen.

Alles klar. Wie tanze ich zu Techno?
Um zu Techno zu tanzen, sollten Sie versuchen, Ihren Körper locker zu halten und sich zur Musik zu bewegen. Techno ist ein schneller und energiegeladener Tanzstil, der sich durch schnelle Bewegungen und viel Ausdruck auszeichnet. Einige Techno-Tänzer bewegen sich zum Beat der Musik, während andere komplexere Bewegungen und Choreographien verwenden. Es ist wichtig, dass Sie sich wohl fühlen und Spaß haben, wenn Sie zu Techno tanzen. Experimentieren Sie mit verschiedenen Bewegungen und finden Sie heraus, was für Sie am besten funktioniert. Es ist auch hilfreich, sich Videos von Techno-Tänzern anzusehen, um ein Gefühl für den Tanzstil zu bekommen und mögliche Bewegungen und Schritte zu üben.

Tanzt du auch gern?
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Thaddeus Herrmann

Müll (1)

Muss man seinen Hausmüll eigentlich spülen, bevor man ihn wegwirft? Bei mir hat sich in diesem Jahr eine Marotte eingeschlichen, deren Ende noch nicht in Sicht ist. Ich spüle Müll, Konservenbüchsen, wo mal Thunfisch drin war, Gläser, wo man Apfelmus drin war, Plastikbehälter, wo mal Hummus oder Frischkäse drin war. Weiter ging es dann mit Gedanken, wie die Müllweiterverarbeitung bei Brötchentüten mit Sichtfenster aussieht: Sichtfenster ausschneiden und getrennt entsorgen? Wie ist das jetzt eigentlich mit den Biomüllsäcken? Lösen sich doch nicht von selbst auf? Wann ist Papier noch Papier? Mal sehen, ob Google Co. nächstes Jahr bessere Antworten parat haben.

Matti Hummelsiep

Müll (2)

Als ich den kurzen Text vom Kollegen Hummelsiep las, fühlte ich mich zur Replik herausgefordert, bzw. zur Bestätigung seiner Überlegungen. Ich bin ganz bei ihm. Das begleitende Foto zeigt den Tonnen-Parkplatz für zwei Häuser in Berlin-Mitte. In einem davon lebe ich. So sieht es dort regelmäßig aus. Unsere „Hausgemeinschaft“ („“ weil ich mit den anderen Parteien eigentlich keine Gemeinschaft bilden möchte) bräuchte allein schon eine Papiertonne für alle Wolt-Tüten und Amazon-Pakete, die hier jede Woche von prekär arbeitenden Freelancer:innen geliefert werden. Natürlich wird nichts gefaltet, nichts wiederverwendet. Und dass die Burger-Boxen innen mit Plastik beschichtet sind, also nicht ins Altpapier gehören, interessiert auch niemanden. Sind ja auch alle busy. Ich weiß das nicht, weil ich in den Tonnen wühle. Ich bin kein Blockwart. Wenn die Tonnen voll sind, kommt der Scheiß halt daneben. Die Vorstellung, Altpapier mal ein paar Tage in der Wohnung zu sammeln, ist ja auch einfach zu unerträglich. Karma, c’mon! Wir schaffen das nicht mit dem Umweltschutz.

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2022 Müll

Foto: Thaddeus Herrmann

Needle Spiking HG 2022

Photo by Dima Solomin on Unsplash

Needle Spiking

Clubs, nicht nur in Berlin, beanspruchen für sich, Safer Spaces zu sein. Nach zwei Jahren der pandemiebedingten Stille in Clubs, häuften sich die Nachrichten dieses Jahr, dass Clubs vielleicht doch nicht so sicher sind. Immer wieder ist von Needle-Spiking-Attacken die Rede. (In den allermeisten Fällen) Frauen werden im Trubel auf dem Dancefloor oder anderem Gedränge mit Spritzen angegriffen. GHB zum Beispiel ist dann in den Spritzen drin, was wie bei Drink-Spiking-Angriffen selten nachgewiesen werden kann, weil das Gift schnell im Körper abgebaut wird. Zwischenfälle dieser Art soll es im Berghain und anderen Berliner Clubs gegeben haben. Aber auch aus England, Italien und anderen Ländern werden Vorfälle berichtet. Zwar gibt es Stimmen, die behaupten, das sei alles nicht so schlimm, und das mit den Spritzen im Vorbeigehen ginge ja gar nicht. Die Clubkultur muss aber solche Problem schnell in den Griff bekommen. Weil in der Pandemie fiel bereits eine nachwachsende Generation von Club-Gänger:innen aus. Clubs schließen nicht nur wegen einer Pandemie oder mangelndem Personal. Sie schließen vor allem dann, wenn niemand mehr hingeht, weil man Angst um die eigene Gesundheit und Leben haben muss.

Ji-Hun Kim

Niedrige Auflösung

Wir haben uns alle daran gewöhnt, dass Bildschirme immer höher auflösen und Grafiken immer besser werden. Ist ja auch toll, dieser technische Fortschritt. 4K ist mittlerweile der Standard selbst auf kleinen Telefonen geworden und 8K ist auch kein Fremdwort mehr. In Zeiten, in denen aber Energie sparen angesagt ist – und das nicht erst seit dem russischen Invasionskrieg in der Ukraine – steht die permanent steigende Hochauflösung im Widerspruch zur Nachhaltigkeit. Das betrifft Handy-Videos genauso wie Games und Videostreaming. Ein Film auf Netflix in 4K verbraucht einfach viermal so viel Energie wie ein Film in Full HD. Im Bereich Games sind 120 Bilder statt 30 die Sekunde keine Seltenheit mehr und 4K sowieso Standard. Da heute aber mehr denn je auch Videospiele live gestreamt werden, ist das ebenfalls eine enorm energieintensive Angelegenheit geworden. Von den immer größer werdenden Displays abgesehen. 65 Zoll im Wohnzimmer sind heute das Minimum. Wer auf dem Smartphone Videos in 4K mit 60fps schießt, merkt die Datengröße spätestens dann, wenn wieder die iCloud oder Dropbox wieder Alarm schlagen. „Was? Schon wieder 250 GB voll?“ Da sind wenige Minuten plötzlich so groß wie früher abendfüllende Blockbuster aus der Pirate Bay. Wir werden lernen müssen, Daten im Netz kontextueller zu benutzen. TikTok und YouTube-Videos auf dem Smartphone brauchen wahrscheinlich gar kein 4K. Games haben in Full HD vor wenigen Jahren auch schon viel Spaß gemacht. Letztlich geht es um guten Content, und um deren Wertschätzung. Und wer die klassische Berieselung im Hintergrund braucht: Terrestrisches Radio und lineares Fernsehen aus dem Kabel oder mit der Antenne sind wesentlich sparsamer als Streams über Media- und Audiotheken. Klingt witzig, ist aber so. So kann der Blockbuster am Wochenende gerne auch mit 4K gestreamt werden. Macht ja auch Spaß, keine Frage.

Ji-Hun Kim

Podcast (1) – Klenk + Reiter

Hängengeblieben 2022 Klenk Reiter

Wieviel „Lage der Nation“, „Wochendämmerung“ und/oder „Der Politikpodcast“ lässt sich ertragen, ohne durchzudrehen? Schauen wir lieber nach Wien, konkret in die Gerichtsmedizin. Im 2022 gestarteten Podcast „Klenk + Reiter“ – Florian Klenk ist Chefredakteur der österreichischen Wochenzeitung „Falter“, Christian Reiter Gerichtsmediziner – kommen spektakuläre Fälle auf den Obduktionstisch. Klenk ist ein sehr guter Fragensteller, Reiter eine trocken plaudernde Ikone seines Metiers. Packend, faszinierend und eben überhaupt nicht reißerisch. Aufwühlende und informative Analysen, nicht nur aus der Welt des Mord und Totschlags. Und der beste Sponsoring-Call aller Zeiten.

Thaddeus Herrmann

Podcast (2) – Pop nach 8

Hängengeblieben 2022 Pop nach 8

Die ersten paar Folgen habe ich eher missmutig ertragen, mittlerweile fiebere ich jede Woche dem Samstag entgegen, wenn ich auf meinem morgendlichen Spaziergang eine neue Folge von „Pop nach 8“ hören kann. Ich schätze Martin Böttcher und Andreas Müller – Radio-Macher bei DLF Kultur und Radio 1 –, wollte mir aber nicht eingestehen, dass ich zwei Kollegen meiner Alterskohorte bei ihren Geschichten aus dem journalistischen Umgang mit Musik tatsächlich gerne zuhöre. Schnoddrig ist das immer. Oberflächlich- arrogant eher selten. Tatsächlich ist die Haltung der beiden in Kombination mit fulminantem Wissen sehr erfrischend. Das Bären-Aufbinden der aktuellen Techno-Schreibe perlt wunderbar ab.

Thaddeus Herrmann

Post-Post-Post-Punk

„House isn't so much a sound as a situation“, sagte DJ Sprinkles einst. Und ich musste oft an diesen Satz denken, als ich einen Artikel über das mittlerweile zweite große Post-Punk-Revival schrieb. Auch wenn ich ein paar der britischen Bands mag, die in dessen Rahmen seit geraumer Zeit im Gespräch sind, stieß mir eins sauer auf: Zum einen beschränkt sich das Gros der Gruppen entweder auf den von The Fall etablierten Laber-Post-Punk-Ansatz, der Ende der 1970er-Jahre noch dem Rock am nächsten war, und ignoriert weitgehend die Möglichkeiten, die die Aufnahme von anderen Musikstilen – Funk und Dub im Original, das heißt auch dezidiert Schwarze Sounds, Rhythmen und Produktionsmethoden – bieten. Zum anderen bedient sich ein anderer, kleinerer Teil an ziemlich vielen verschiedenen Genres, die dann virtuos unter einen Hut gebracht werden. So eröffnen sich für die Kritik zwei Fettnäpfchen: Den einen vorzuwerfen, zu originalgetreu und doch nicht musikalisch breit genug lediglich auszugsweise aus der Post-Punk-Geschichte zu zitieren, wäre selbst irgendwie nostalgisch. Und es den anderen anzukreiden, dass sie ihre Instrumente nicht nur halten, sondern tatsächlich spielen können, ist erst recht bescheuert. Im Rahmen meiner Recherche bin ich tief in die Kataloge von Gruppen wie Pop Group, PiL, The Raincoats und anderen eingetaucht und kam umso verwirrter daraus hervor: Davon ließ sich eigentlich nichts auf einen bestimmten Sound, sondern nur maximal einige wenige Parameter kondensieren. Was blieb, war die Situation, und die ist heutzutage eine andere. Und das ist dann letztlich mein Kritikpunkt an Post-Post-Post-Punk: Der Sound von damals wird dieser nicht gerecht.

Kristoffer Cornils

Profilizität

Ich habe im Jahr 2022 also angefangen, mir YouTube-Videos anzuschauen. Zuvor hatte ich diese Plattform strikt dazu verwendet, mir Musikvideos anzuschauen oder mir all das anzuhören, was ich nicht auf den eigenen Festplatten finden konnte. Irgendwie aber stieß ich auf Carefree Wandering, den YouTube-Kanal des in China lebenden Philosophen Hans-Georg Möller. In bisweilen kurzen, immer aber sehr nuancierten und seinen Sujets gegenüber fairen Videos analysiert Möller an verschiedenen Beispielen, wie sich das von ihm gemeinsam mit Paul J. D'Ambrosio auch in Buchform unter dem Titel „You and Your Profile: Identity After Authenticity“ beschriebene Paradigma der Profilizität in der (Selbst-)Darstellung verschiedener Menschen darstellt. Möller redet über die YouTuberin Abigail Thorn (Philosophy Tube), CIA-Werbespots oder Jordan Peterson. Und legt dabei offen, wir sich diese wie auch wir selbst stetig profilieren, um so unsere Identität zu konstruieren. Das Paradigma der Profilizität folgt Möller und D'Ambrosio auf jene der Aufrichtigkeit (deine Identität entspricht der Rolle, die gesellschaftlich dir zugeschrieben wird) und der Authentizität (deine Identität entspricht dem, wer du in deinem Kern bist) und besteht darin, dass wir uns vor einem „general peer“ selbst eine Identität zurechtkuratieren müssen – einschließlich Möller, dessen wild und nur semi-professionell editierten Videos das immer wieder selbstreflexiv auffangen. Klingt das alles anderthalb Jahrzehnte nach dem Siegeszug von Social Media recht trivial? Sicherlich. Liefert Möller mit seinen Videos beziehungsweise sein gemeinsames Buch mit D'Ambrosio damit aber wichtige Konzepte zu dem nach, was im ständigen Strudel der Diskussionen über Echtheit und Fakeness kaum jemals grundsätzlich infrage gestellt wurde? Absolut.

Kristoffer Cornils

Pusha-T – It’s Almost Dry

Hängengeblieben 2022 Pusha-T

Mit insgesamt zwölf Tracks hebt sich „It’s Almost Dry“ von Pusha-T angenehm von den auf maximale Streaming-Erfolge ausgelegten Mega-Alben mit bis zu 30 Titeln anderer US-amerikanischer HipHop-Acts ab. Auch bei der Produzent:innen-Auswahl beschränkt sich der Kokain-Poet aus Virginia, was zur Folge hat, dass die Platte wie alle HipHop-Klassiker wie aus einem Guss erscheint. Neben Pharrell von den Neptunes ist nur noch Ye formerly known as Kanye West (mittlerweile im US-amerikanischen Late-Night-TV auch als Yedolf oder KKKanye bekannt) für die Beat-Produktion zuständig. Wenn ältere Herren ans Mic steppen (Pusha-T ist ebenso wie Ye mittlerweile 45, und Pharrell zählt sogar ganze 49 Lenze), kann es schnell sehr vorhersehbar und nostalgisch werden. Nicht so auf „It’s Almost Dry“. Hier glitzern die Synthies und erwärmen gefühlvolle Soul-Samples das Herz, während Gast-Features wie die Young Guns Lil Uzi Vert und Don Toliver sich das Spotlight mit HipHop-Senioren wie JAY Z (53 Jahre) teilen. Letzterer stiehlt auf der Single „Neck & Wrist“ sogar kurzzeitig Pusha-T die Show und liefert den vielleicht lässigsten Rap-Verse des Jahres ab.

Tim Schenkl

Steffi – The Red Hunter

Hängengeblieben 2022 Steffi

Ich habe mich 2022 immer wieder mal an die Action-Schmonzette „The Hunt For Red October“ erinnert, ihr wisst schon, diesen U-Boot-Film mit Sean Connery als „rogue“ Kommandanten eines sowjetischen Submarine. Das im Herbst 2022 veröffentlichte Album von Steffi heißt „The Red Hunter“. Und triggert meine Synapsen. Die Musik der Produzentin hat mich schon immer bewegt – ist einfach zu gut, um wahr zu sein. Für ihre aktuelle LP befeuert sie das Genre des klassischen Electro mit neuen Ideen. Das ist wichtig. Denn bei allen fluide-morphenden Weiterentwicklungen der elektronischen Musik dürfen wir ihren Ursprung und die prägenden Epochen und Genres nicht vergessen. Die Essenz dieser zehn Tracks voll darker Euphorie lässt sich auf TikTok nicht abbilden. Ganz geil eigentlich.

Thaddeus Herrmann

Verarscht

Niemand will gerne über den Tisch gezogen werden. Dennoch üben die Geschichten über Con Artists bzw. Hochstapler:innen einen großen Reiz aus. Netflix-Serien wie „The Tinder Swindler“ oder „Inventing Anna“ erzielten zu Beginn des Jahres Bestquoten und es gibt viele weitere Formate wie „The Dropout“ mit Amanda Seyfried als Elizabeth Holmes, die uns immer wieder auftischen, wie narzisstische Individuen der Welt auf der Nase rumtanzen. Dabei werden die Protagonist:innen wie Popstars verehrt. Aber woher kommt dieser Appeal? Weil die Geschichten uns aufzeigen, dass das kapitalistische System naiv, dumm und leichtgläubig ist? Das zeigt auch die Serie „WeCrashed“ mit Jared Leto und Anne Hathaway. Ein übergroßes Ego und Inszenierungstalent sind heute evident wichtiger als BWL und Zahlen, um ein Milliardengeschäft aufzubauen. Es zeigt aber auch, dass der vermeintliche amerikanische Traum, dass jede und jeder alles erreichen kann, vielleicht nur auf Betrügereien basieren kann. Aktuell macht die Inhaftierung des 30-jährigen Sam Bankman-Fried, kurz SBF, Schlagzeilen. Dem CEO der Krypto-Plattform FTX, die Milliarden veruntreut haben soll, drohen nun bis zu 115 Jahre Haft. Es handelt sich um einen der größten Betrugsfälle in der amerikanischen Finanzgeschichte. Aber auch SBF wurde die vergangenen Jahre als Wunderkind und Midas in den höchsten Etagen hofiert, der wundersam alles zu Gold machte, was er nur berührte. Viele gehen indes davon aus, dass er weitaus glimpflicher davon kommen dürfte, auch weil er zu Beginn des Jahres als großzügiger Millionenspender der Demokraten in den USA in Erscheinung trat. Eine Verfilmung dürfte nicht lange auf sich warten lassen. Und so lange viele Menschen nicht wissen, wohin mit ihrer Kohle und überall da investieren, wo sich eine schnelle Mark machen lässt, wird es an Epigonen und Nachahmer:innen in absehbarer Zukunft bestimmt nicht mangeln.

Ji-Hun Kim

Vinyl

Hängengeblieben 2022 Feed Perry Plattenspieler

Foto: Fred Perry

Es ist 2022 und das Modelabel Fred Perry bringt einen „eigenen“ Plattenspieler auf den Markt. Eigentlich sollte mich das nicht berühren. Macht doch einfach! Und hat Carhartt nicht vor vielen Jahren schon genau den gleichen Stunt gepullt? Aber so einfach ist es nicht. Die Zeiten haben sich geändert. Wären neue Releases auf Vinyl 2022 Lebensmittel, würde sich nicht mal die Feinkostetage im Berliner Nobelkaufhaus KaDeWe damit eindecken – ist doch Quatsch! Wird doch nicht gekauft! Stimmt und stimmt nicht. Menschen kaufen Schallplatten. Der Preis scheint oft egal. Glückwunsch an alle, die sich das noch leisten können und wollen. Und die Preise sind mittlerweile oft derartig absurd, dass ich mich frage, wann diese Blase ein für alle Mal explodiert. Es wäre an der Zeit. Zumal wir für viel Geld ja nicht mal viel Qualität bekommen. Schlechter Umschnitt, lappige Cover, das falsche Knistern. Das ist kein Major/Indie-Problem, sondern ein generelles Desinteresse am Medium per se. Aber auch im mittlerweile fehlenden Wissen begründet, was eine LP wirklich braucht. Es ist also eine fantastische Zeit, um sich als Fashion-Brand an den längst abgefahrenen Vinyl-Zug zu hängen. Auftritt Fred Perry! Zwischen Weltuntergang, Energie- und Klimakrise (Konsum, motherfucker), neuen – falschen! – Allianzen im Globalen und unfassbaren Fehlentscheidungen im Lokalen (von Bottrop bis Newcastle), veröffentlicht das Polohemd einen Turntable. Der Plattenspieler kommt aus Deutschland, von der Projekt Akustik Schönberg GmbH. Ganz okaye Qualität, soweit ich weiß. Das Team aus Bad Schwartau hat sich das Branding mit Sicherheit gut bezahlen lassen. Alle Daumen hoch. Aber ganz ehrlich, wir sind hier ja unter uns im Chat-Room des Hyper-Kapitalismus: Was um alles in der Welt soll das? Wer einen Plattenspieler will, gehe doch in den Saturn und kaufe einfach einen – zum halben Preis. Oder gönne sich etwas wirklich Tolles. Wie wir unsere Kultur archivieren, wertschätzen, abhören und rezipieren: Darüber müssen wir 2023 in diesem Magazin zahllose Debatten führen. Denn wir brauchen nachhaltige Alternativen zu den Abspielgeräten der Vergangenheit.

Thaddeus Herrmann

Zapp

Kiste aus. Bis zum nächsten Mal.

Plattenkritik – Twin Peaks (Soundtrack From)Auf einen Cherry Pie mit Angelo Badalamenti

Pageturner – Januar 2023: Freiheit, Selbstverwirklichung, EsoterikLiteratur von Carolin Amlinger & Oliver Nachtwey, Pia Lamberty & Katharina Nocun und Philipp Staab