Gender- und Genre-BendingSo war das Musikfestival „acting in concert”

acting in concert

Born in Flamez. Foto: Lea Hopp

Auf dem Musikfestival acting in concert kommen internationale Musiker_innen, begeistertes Publikum und ein achtsames Festivalteam zusammen, um avancierte Formate der Popmusik zu feiern und gemeinsam an der Utopie dekolonisierter, queerer Räume zu arbeiten. Das Festival versucht die Oberfläche eines gegenwärtigen Hypes um Queerness zu durchbrechen und setzt an deren Tiefenstrukturen an. Es findet nicht etwa in Berlin statt oder in London, wo man entsprechende Communities und Diversität vielleicht findet. Sondern in einer durchweg normativen Kleinstadt im Ruhrgebiet, in Witten. Wie funktioniert das? Manischa Eichwalder hat es sich für uns angeschaut.

Im familiären Rahmen des [....] raum Café wird an zwei Konzertabenden, einem Talk und einer Live-Audio-Erfahrung erprobt, wie sich gemeinsam emanzipative Räume gestalten lassen, in denen sich marginalisierte Communities wie LGBTQIA+ oder PoC nicht immer wieder den gleichen ermüdenden Kämpfen stellen müssen: dem labelling als das Andere. Paradoxer Weise findet diese Reduktion auf das Anders-Sein einer Person nämlich nicht nur dort statt, wo sie ganz offensichtlich durch Ausgrenzung gekennzeichnet ist, sondern auch inmitten der coolen, linken, „queeren“ Szene. Selten reichen hier die Claims, antirassistisch, feministisch und postkolonial zu sein, über die Funktion des hippen Aushängeschildes hinaus. Zu schnell wird mit diesem scheinheiligen Tokenismus das eigene Gewissen beruhigt, das eigene Image bestätigt. Zu einfach ist die gewohnte Reproduktion patriarchaler Machtgefüge, um ernsthaft neue solidarische Strukturen und Praktiken zu erarbeiten.

Das versucht das Festivalformat acting in concert anders zu machen. Und liefert mit den zwei beeindruckenden Konzertabenden eine exemplarische Vorlage. Die heterogenen und allesamt großartigen musikalischen Performances von slimgirl fat, Larry B, Born in Flamez, Lala &ce feat. Iku, MHYSA und COOL FOR YOU lassen sich am ehesten unter der Idee von Gender- und Genre-Bending zusammenbringen. Jenseits von Genrezuschreibung und vermeintlichem Genderhabitus resetten die Künstler_innen etablierte Hörgewohnheiten und dehnen die Grenzen von R&B, Soul, Femme-Rap und technoidem Elektro-Pop aus. Lyrics, Samples, Beats und Melodien werden auseinandergenommen und zu neuen atmosphärischen Erzählungen zusammengesetzt.

So begeistert zum Auftakt des Festivals der Londoner Produzent, DJ und Songwriter Larry B mit einer unglaublich starken und zugleich fragilen Live-Performance. Er begleitet seinen tiefen, weichen Gesang am E-Piano, seziert das Potential des Instruments auf humorvolle Weise und lässt durch das Ineinanderfallen unterschiedlicher Musikrichtungen eine völlig überraschende Mischung aus herzzerreißendem Gospel, Soul und R&B entstehen.
Ebenfalls wird dieser Akt der musikalischen Aneignung in der Performance COOL FOR YOU besonders erlebbar gemacht. Die Künstlerin Vika Kirchenbauer zerlegt Harmonien christlicher Gesänge des 18. Jahrhunderts, hebt sie aus ihrem kolonialen Kontext und verwebt sie zu sphärischem, spannungsgeladenem Klangmaterial.

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COOL FOR YOU. Foto: Lea Hopp

Jede Performance führt eine ganz eigene Art des Musikmachens vor und nimmt das Publikum mit in die Dynamiken ihrer faszinierenden Soundmatrix. Dies funktioniert unmittelbar immersiv und lässt eine fast schon intime, fragile Verbindung zwischen Artists und Publikum entstehen, die immer wieder auf dem Prüfstand steht. Das Publikum wird mit jedem neuen Act dazu herausgefordert, den eigenen Blick auf das Geschehen zu beobachten und sich dazu zu verhalten. Wie entwickelt sich beispielsweise eine Sensibilität für das eigene Rezeptionsverhalten, wenn sich der posthumane Character Born in Flamez hinter ihrer verspiegelten Maske jeglichem Blickkontakt verweigert? Aus welcher Perspektive sieht ein mehrheitlich weißes Publikum der fast unbekleideten, schwarzen Sängerin MHYSA dabei zu, wie sie, gefesselt mit dem Kabel des eigenen Mikrofons, den nächsten Song singt? Diese Momente der Verunsicherung werden von den Musiker_innen charmant inszeniert und in das gemeinsame Feiern der Musik eingebettet. Sie legen Strukturen und Phänomene offen und machen diese für alle bearbeitbar.

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Vika Kirchenbauer, Shaheen Wacker und ...

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... Neda Sanai diskutieren. Foto links und rechts: Lea Hopp

Diese gemeinsame Bearbeitung wird aufgegriffen und fortgesetzt in dem Talk „queering and decolonizing spaces“ mit Shaheen Wacker, Vika Kirchenbauer und Neda Sanai. Sie berichten sehr konkret über persönliche Erfahrungen im Umgang mit Ausgrenzungsmechanismen und Exotisierung in vermeintlichen queeren safer spaces der gegenwärtigen Kunst- und Musikszene. Eine zentrale und immer wiederkehrende Herausforderung stellt dabei die prekäre und durchaus gewaltvolle Situation der Konfrontation dar: Welche zusätzliche emotionale Arbeit muss ein_e Künstler_in leisten, die eigenen Grenzen zu kommunizieren? In welche Position versetzt sich der_die Künstler_in mit diesem call out und wie wirkt sich dies auf das Abhängigkeitsverhältnis sowohl zwischen Publikum, als auch den Veranstalter_innen aus? Welche Verantwortung fällt bei der Umarbeitung von heteronormativen und rassistischen Strukturen dem Publikum, welche den Veranstalter_innen und Künstler_innen zu? Zusammen mit den Musiker_innen, dem Publikum und dem gesamten Festivalteam werden Begriffe und Praktiken diskutiert, die eine mögliche Basis für neue solidarische und sichere Räume darstellen.

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Larry B. Foto: Jan Hagelstein

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Lala &ce: Jan Hagelstein

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slimgirl fat. Foto: Lea Hopp

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MHYSA. Foto: Lea Hopp

Jenseits von kapitalistischen und kolonialen Verwertungslogiken trägt acting in concert in jeglicher Hinsicht zur Realisation dieser Utopie bei. Der intensive Austausch, die Enthierarchisierung zwischen den unterschiedlichen Akteur_innen und die gemeinsame Zeit in der Community sind wesentliche Aspekte, die das Festival bis in seine Organisationsstrukturen hinein prägen und es so besonders machen. Dass dies zunächst eine umsichtige und sensible Arbeit aller Beteiligten und leider auch immer wieder die Konfrontation mit einem Außen bedeutet, ist auch während des Festivals in Witten zu erleben. Hier endet die gemeinsame Utopie an der großflächigen Fensterfront, die den Konzertraum von der Wittener Innenstadt trennt und nicht nur symbolisch die Fragilität des Ereignisses kennzeichnet.

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