Rewind: Klassiker, neu gehörtTalking Heads – 77 (1977)
16.6.2017 • Sounds – Gespräch: Thaddeus Herrmann, Martin RaabensteinLange bevor sich die Talking Heads auf die „Road To Nowhere“ begaben, rüttelte ihr Debüt an vielen Theken Drinks plötzlich andersrum. „77“ ist ein wichtiges Album, nicht nur für die Karriere von David Byrne und seinen Mitstreitern. Der Urknall einer Band, bevor sie von Brian Eno gekapert wurde. Thaddeus Herrmann versucht sich der Platte mit der Rezeptionsbrille des Spätgeborenen zu nähern, Martin Raabenstein erklärt die Nightlife-Regeln der 70er. Derweil sind die Leinen schon los: Der Retro-Roundtable steuert auf die 80er zu.
Martin Raabenstein: Das ist jetzt schon die dritte Platte aus den Siebzigern. Ein Jahrzehnt zu früh für dich, wie ich weiß. Und noch nicht mal von Brian Eno produziert, dafür sind wir wiederum ein Jahr zu früh. Aber: 40. Geburtstag. Also!
Thaddeus Hermann: Es ist aber die erste der drei Platten, zu deren Protagonisten ich keinerlei Beziehung aufgebaut habe und mich rückwirkend mit ihrem Werk beschäftigt habe. Natürlich kenne ich die Hits der Talking Heads, natürlich habe ich ein Buch von David Byrne im Schrank, obwohl ich es, glaube ich zumindest, nie wirklich gelesen habe. Das ist eine Band, bei der ich nie das Bedürfnis hatte, nachzuhören. Und der erste Track erklärt auch gleich warum. Puh, vorbei. Also. 1977. Ich bin fünf. Immer noch sozusagen. Und da kommt diese Platte raus. Warum eigentlich?
Martin: Die Briten und immer wieder diese Briten, ganz einfach. Man muss ja in den USA schwerst Pina Colada durch die Ohren gesaugt haben, um nicht mitzubekommen, dass da drüben heftig etwas durch die Wand bricht. Die Amerikaner hatten ... die Ramones. Bei denen die Heads auch gleich ihr erstes Konzert abgeliefert haben. Aber nimm zum Beispiel die 1976er-Kompilation „Live From The CBGB's Club, New York – The Home Of Punk Rock“. Da sind die Shirts drauf. Und Mink De Ville. Ganz nett, ein bisschen zu viel Stones gehört, aber ansonsten: Geht’s noch?
Thaddeus: Wenn dieses Album Underground ist, dann hat man in den USA aber ganz schön gelitten zu der Zeit.
Martin: Hehe, da musste nur Lou Reeds Gitarre umfallen, schon hatten die Amis ein weiteres Schütteltrauma. Okay, du und Rock - is’ nich. Ich kann dich ja nachher noch ein bisschen mit Television quälen. Aber da ist doch mehr drin, die „77“ hat bestimmt auch für dich ein wenig mehr Saft in der Zitrone versteckt, als du zugeben magst.
„Ey, David Byrne, du Arsch, warum jaulst du wie XY. Natürlich ist es umgekehrt.“
Thaddeus: Stimmt. Als Album lässt mich die Platte relativ kalt. Ich halte ihr aber zugute, dass sie erstens immer besser wird – die ersten Stücke sind wirklich schwach – und ich mich zweitens bei vielen Tracks an Stücke erinnert fühlte, die mir wiederum etwas bedeuten. Das war psychologisch interessant. Denn ich dachte zuerst: Ey, David Byrne, du Arsch, warum jaulst du wie XY. Natürlich ist es umgekehrt. Das ist mir mehrmals so gegangen. Was ja im Umkehrschluss nur bedeutet, dass die Platte tatsächlich rezipiert wurde und für den Style vieler anderer Musiker und Bands wichtig war. Das Songwriting wahrscheinlich eher weniger. Sonst hätte ich ja „meine Bands“ hinterher nicht so gemocht. Naja. So trockenes Schlagzeug: Mag ich ja nicht. Du?
„Byrne wollte immer Pfosten sein, hat es aber nur bis zur Latte geschafft. So erkläre ich mir auch sein Jaulen, sein soziologisches Knurren.“
Martin: Tja, dass aus diesem schmalen Möchtegern-Frontmännlein mal was Großes werden würde, war da nun wirklich nicht vorhersehbar. Ich meine, der wirkt so, als wollte er immer Pfosten sein und hat’s nur zur Latte geschafft. So erkläre ich mir auch sein Jaulen, sein soziologisches Knurren. Wenn ich beim Basketball nicht mitmischen darf, dann gründe ich eben meinen eigenen ... Briefmarkenklub. Der Hero kommt dann erst später. Stell dir vor, David Byrne wäre 1981 in einem Club nur im Bademantel erschienen, da hätten alle Mädels gerne Unterhöschen gespielt.
Thaddeus: Sexist!
Martin: Da! Aber! Bitte! Gerne! Zur Musik. Das Album zeigt die Talking Heads vor den Talking Heads. Ohne die Funk- Einflüsse, ohne den Eno „Wall Of Sound“, unangefasst und – das groovt sich mit der Länge der Platte auch schön langsam ein.
Thaddeus: Damit bin ich einverstanden. Ich kann diese Platte aber nicht befreit von meinen Assoziationen hören. Ich denke immer an die 80er, an die Bands, die diese Platte offenkundig geliebt haben, für die sie ein großer Einfluss war. Also profitiere ich auch von diesem Album. Wirklich hören will ich es aber dennoch nicht. Jedenfalls nicht ständig. Gibt ja so Alben. Referenzpunkte, die sich in der eigenen Vita spiegeln, die man aber nicht versteht oder wertschätzen kann. Genau so ist „77“.
Martin: Ach ja, die Achtziger, gelebt fühlte sich das sehr gut an. Aber im Nachhinein, hum. Das verhält sich so wie mit der französischen Revolution, die gab es doch gar nicht. Die Franzosen haben immer noch ihren Kaiser und dieses überschätzte Jahrzehnt ist bestenfalls eine dünne, dümmliche Weiterentwicklung der 70er. Viel, sehr viel verlorene Zeit. Synthie Pop gibt es ohne Disco nicht, HipHop basiert auf Ideen von damals, Metal behält zwar die langen Haare, ansonsten irrt und wirrt das Ganze aber kopflos den Gang vor und zurück. Die Neunziger, da wird es dann wieder schön prickelnd, da kommt große Freude auf.
„Nur weil in den 80ern Karottenjeans in waren, war das noch kein beschissenes Jahrzehnt.“
Thaddeus: Die 80er waren natürlich weder dünn noch dümmlich, es war einfach das Jahrzehnt, das den 70er folgte. Und wie in jedem anderen Jahrzehnt auch schwappten Einflüssen aus dem vorherigen in das kommende rein. Das ist das Einmaleins der Musikgeschichte. Erfunden wird sowieso nichts, es ist immer einer Weiterentwicklung, ein konstanter Remix oder vielleicht besser eine Coverversion dessen, was vorher schon war. So. Nur weil in den 80ern Karottenjeans in waren, war das noch kein beschissenes Jahrzehnt. Ich merke, dass ich zu dem Album wirklich nicht mehr zu sagen habe. Ich höre das Echo von Byrne und Konsorten in vielen Platten, die mir wichtig sind. Das nehme ich als gutes Zeichen.
Martin: Auf welche Platten beziehst du dich da?
Thaddeus: Das kann und will ich gar nicht spezifizieren. Das ist eher so ein Gefühl, eine Haltung, die wie ein Windstoß immer wieder auftaucht und dann schnell wieder verschwindet. Das Album selbst aber ist mir ziemlich egal. Spannender finde ich da schon das Label. Sire. Das nehmen wir in Europa ja gerne nur als Major wahr: Als „77“ erschien – 1977 – war es aber noch gar kein Major, sondern ein Indie, auch wenn der Begriff noch nicht erfunden war. Da hatte jemand den richtigen Riecher. Der Katalog des Labels aus der Zeit sieht schon sehr legendär aus. Und da passen die Talking Heads dann ja auch wieder rein. Jede Legende muss irgendwann ihr erstes Demo aufnehmen.
„'77' ist die Keimzelle der Gruppe und im Gegensatz zu manch anderen Acts ist hier eine steile Entwicklung geschehen.“
Martin: Indie und Alternative: In den 70ern herrschte einfach nicht diese ermattende Wucht der Veröffentlichungen der Jetztzeit. Wenn da etwas Neues oder Spannendes rauskam, dann hat man das gespielt, Chic mit Kate Bush und eben Talking Heads. Das waren auch keine dreitägige Sets mit Clubaufenthalt bis Dienstagmorgen. Damals gab es natürlich auch schon Drogentote, aber nicht so – völlig dehydriert und vollgepumpt mit Uppers tagelang die Schuhsohlen quälen, und dann pow – aus. Das klingt jetzt schlimm romantisch, meint es aber gar nicht so. Wie gesagt, „77“ ist die Keimzelle der Gruppe. Im Gegensatz zu manch anderen Acts ist hier eine steile Entwicklung geschehen, das 1980er-Album „Remain In “ war der Clubrenner, nur noch getoppt von der Eno/Byrne-Zusammenarbeit „My Life In The Bush Of Ghosts“. Speziell die Tracks „Mea Culpa“ und „Help Me Somebody“ mit den musikgeschichtlich neuartigen und teilweise sehr irren Vocal-Samples. Dieses Techtelmechtel zwischen den beiden führte dann auch zum kurzzeitigen Ende der Band. Dann war Eno raus. Vielleicht auch, weil die Zusammenarbeit zwischen Produzent und Gruppe das Gefühl aufkommen ließ, als hätte sich Eno seine eigene, zweite Version von Roxy Music herangezogen, mit David Byrne als Bryan Ferrys nerdigem Neffen vom Land. Bei „Psycho Killer“ wird dann auch ganz heftig ge-französischt. Ich weiß, deine These – klauen, wo man klauen kann – aber das muss dann auch sitzen. Der Track war ein kleiner Underground-Hit, möglicherweise auch wegen der Lyrics:
You start a conversation, you can't even finish it / You're talking a lot, but you're not saying anything / When I have nothing to say, my lips are sealed / Say something once, why say it again?
Da steckt er drin, der Same zu Großem.
Thaddeus: Du meinst also Folgendes: Eno ist bei Roxy Music raus, Roxy Music macht Disco – vereinfacht gesagt – und Eno macht genau das Gleiche: Disco. Nur eben als Produzent von The Talking Heads?
Martin: Ja. Und geht sogar noch einen Schritt weiter, in dem er sich stark bei Fela Kuti und Afro Beat bedient. Das war dann der Moment, wo die Talking Heads durch die Decke gegangen sind. Die Kombi ist auch ziemlich spannend, weil konträr. Dein Hintern wackelt, dein Hirn folgt dem dystopischen Irren Byrnes und, da beziehe ich mich jetzt nur am Rande auf den Sexismusvorwurf, deine Freundin swingt freudig lächelnd mit dir mit. Bingo.
Thaddeus: Also hoch komplexe Musik, poppig verpackt?
Martin: Das ist so gegenwärtig wie zeitlos, nimm nur 45 (Trump) als Beispiel. Es geht nicht nur um den Frontmann, das Publikum ist die entscheidende Macht. Du kannst so lange intelligente Musik anbieten, bis deinem Hahn die Stimmbänder um die Ohren fetzen – solange die Crowd mitgeht: Well done! Das ist heute nicht anders.
Thaddeus: Zum Glück! Ich bin selbst oft überrascht, mit was für einem sperrigen Sound man heute die Kids hinter dem Ofen vorholen kann. Ein gutes Zeichen.
Martin: Ich habe die Heads schon ein paar Jahre nicht mehr auf dem Teller gehabt und mir die ersten vier Alben zur Vorbereitung dieses Gespräches reingezogen. Mein innerer Plattenspieler hat dann auch brav die eine oder andere Passage im Loop wiederholt, das ist eine lobende Erwähnung wert. Wem das noch nicht reicht, der kann sich ja die bemerkenswert alberne Coverversion „Psycho Chicken“ von den Fools antun. Soviel zum Thema Achtziger und Innovation. Boaboaboa. Boak. Boak.
Thaddeus: Ich suche für das nächste Mal was Schönes von 1987 raus.
Martin: Prince?
Thaddeus: Nein.