Endlich ein Grund – los, Kino!Filmkritik: „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf
5.8.2021 • Film – Text: Lucas CurstädtDominik Grafs Adaption des Kästner-Romans ist so radikal, dass es einem die Sprache verschlägt. Über ein Meisterwerk, welches seiner Zeit entflieht.
Dieser dreistündige Film erzählt die Geschichte von Fabian (Tom Schilling), eigentlich Jakob und Doktor der Germanistik. Tagsüber verdient er sein Geld als ›Propagandist‹ in der Berliner Werbe-Industrie, nachts zieht er mit seinem besten Freund Labude (Albrecht Schuch) durch eine Zeit, die, so schrieb es schon Carlo Mierendorff, so zu Ende war wie keine andere. Auch Erich Kästner ahnte etwas von diesem Ende, von einer epidemischen Lähmung der Gesellschaft in den frühen 30er-Jahren und der Trägheit der Herzen – seinem Erstverleger waren diese Warnungen aber zu krass, er ließ den Titel abändern und einzelne Kapitel verschwinden. Graf korrigiert dies nun: Aus Fabian. Die Geschichte eines Moralisten wird der von Kästner ursprünglich angedachte Titel benutzt. In Fabian findet man diese Lähmung. Am ehesten lässt er sich als ein forcierter Außenseiter beschreiben. Ein Hedonist, ein Ironiker, ein gefallener Idealist – irgendwas trifft schon zu und dann auch wieder nicht. Eines aber ist für ihn klar: Die guten Systeme des Kommunisten Labude haben ja doch keine Chance, weil der Mensch nun mal ein Schwein ist. Dann lernt er Cornelia (Saskia Rosendahl) kennen, beide verlieben sich, sie aber wird ihn sitzen lassen, weil die große Karriere und das große Geld sie ins Filmgeschäft locken. Dann ist Fabian wieder allein.
Lose Adaption, aber pointiert!
Besonders ist Grafs Adaption nicht, weil sie auf Werktreue verzichtet und folglich vereinzelte Orte, Personen und Handlungen zusammenzieht, weglässt oder hinzufügt. Im direkten Vergleich fällt sogar auf, dass sich Graf stärker der Beziehung zwischen Fabian und der Schon-Bald-Schauspielerin Cornelia widmet und auf diese Weise Gesellschaftslärm und sozialen Morast der Weimarer Endzeit in den filmischen Hintergrund rückt. Doch das macht aus Fabian kein privatistisches Liebesabenteuer, im Gegenteil. Die Besonderheit zeigt sich darin, dass Graf ganz genau weiß, wann er dem Stoff etwas hinzufügen muss, um an der richtigen Stelle die Brillanz der literarischen Vorlage zu übertreffen. Wenn zum Beispiel ein Vater um seinen toten Sohn trauert, dann behält Graf das geschriebene Wort bei, greift aber in das von Kästner entworfene Bild ein, um es durch ein genuin filmisches Bild – das Affektbild – zu bereichern. Wenn sich ein mittelmäßiger Doktorand einen tödlichen Witz gegenüber einem herausragenden Kommilitonen erlaubt, dann nicht einfach, weil er sich für seine Durchschnittlichkeit rächen will, wie es Kästners Vorlage noch nahelegt, sondern weil durch die bürgerliche Fassade hindurch bereits das Braunhemd zu sehen und der Gegenüber nun mal ein Roter ist. Doch Literaturabgleich hier, Drehbuchvariante dort, das ist nur das eine. Was Fabian zu einem Meisterwerk macht, ist Grafs kompromisslose Suche nach einer filmischen Form, die dem Stoff, aber weitaus stärker dem Medium Film gerecht werden will.
Postmoderner Formalismus?
Faszinierend ist Grafs Film in der Art und Weise, wie er die Problematik löst, einen historischen Stoff in den Griff zu bekommen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sich der Regisseur postmodern gibt, weil er intertextuell und vor allem intermedial arbeitet. Das meint zunächst einmal, dass Graf heterogene Stil-, Form- und Materialelemente miteinander verflechtet. Er nutzt dokumentarische Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus der historischen Zeit oder er verwendet unterschiedliches Filmmaterial (oder suggeriert dies zumindest digital). Andererseits theatralisiert er den filmischen Raum, indem er auf die Unvollständigkeit der Kulissen verweist oder durch punktuelle Beleuchtung den ansonsten in Dunkelheit belassenen Raum in seiner Künstlichkeit betont. Genau genommen hat man Berlin noch nie so dunkel gesehen im Film. Es ist fast so, als hätte der alte Mann am Ende von Jan-Ole Gersters Oh Boy – eine andere, moderne Variation des Fabian-Stoffs und wieder mit Tom Schilling – die Wahrheit erzählt.
Dann wiederum hat die Kameraführung und der bewusste Verzicht auf die perfekte Ausleuchtung etwas von einem Dogma-Film – und auch die formalen Unterbrechungen durch Freeze-Frames, Animationen oder unterschiedlichen Voice-Over-Stimmen erinnern an Lars von Trier. Aus dieser Perspektive scheint es naheliegend, Graf einen postmodernen Formalisten zu nennen. Doch diese ist unzureichend, weil sie übersieht, dass es Graf nicht um Oberflächlichkeit oder um Historizismus geht, wie es Fredric Jameson in seiner Kritik am Postmodernismus äußert. Es geht eben nicht um eine Annäherung an das Vergangene durch stilistische Konnotationen wie perfekte Sets, teure Ausstattung, akkurate historische Nachbildung oder ähnliches, es geht auch nicht um einen historischen Realismus, wie es Siegfried Kracauer manchen Stummfilmen der 20er-Jahre vorwarf.
Es geht um eine filmische Sichtbarmachung des Umgangs mit Historizität, und das meint hier einen unaufhörlichen wie unabschließbaren Prozess, der nicht aus sicherer und abgeschlossener Ferne betrachtet werden kann, sondern in das Hier und Jetzt hineinragt. Dazu nimmt Graf ganz bewusst den Bruch mit Diegese und Illusion in Kauf, denn alles andere wäre schlicht und ergreifend naiver wie plakativer Eskapismus, mit dem sich einer wie Florian Henckel von Donnersmarck aufhalten kann, aber eben nicht Graf.
„Der Zug, der durch die Jahre jagt, kommt niemals an sein Ziel“
Blicken wir hierzu auf den Filmauftakt. Graf entwirft eine Plansequenz. Eine Kamera bahnt sich ihren Weg durch unsere Gegenwart der U-Bahn Station Heidelberger Platz und endet bei Fabian, der von einem Kriegsversehrten belästigt wird. Wir reisen also mit der Kamera durch die Zeit zurück, so als wäre die in entgegengesetzte Richtung einfahrende U-Bahn die lineare Zeit und die Kamera ihre Rückwärtsbewegung. Die Besonderheit an dieser ›Zeitreise‹ ist nicht ihre formale Simplizität, sondern die Bewusstwerdung dieser. Grafs Film will in dieser Hinsicht anti-immersiv und damit anti-verklärend sein, er will nicht Zeitgeschichte suggerieren, er will Zeit und damit den (fiktiven) Erfahrungsraum der Zeitgenossen ausstellen und das meint eben, dass der filmische Aneigungs- und Ausstellungsprozess nicht verheimlicht, sondern performativer Teil des Films wird.
Genau das ist das Gegenteil von einem wohlfeilen postmodernen Historizismus, der immer nach Stoffen verlangt, die abgeschlossen sind, die konsumiert werden können, denen man ihre Tiefe entnimmt, um sie so aus der Ferne zu betrachten und schlussendlich als deutschen Beitrag bei den Oscars einzureichen. Graf aber sucht die Konfrontation, baut (diegetisch unmöglich) sogar Stolpersteine in das Stadtbild ein – und diese werden von Fabian ähnlich irritiert gemustert, wie von der Kamera. Diese Steine dürften da nicht sein, sie müssen aber da sein, sie sind im urbanen Raum Deutschlands und ganz besonders in Berlin auf eine Weise eingebrannt, dass sie sich einfach nicht für Fragen der diegetischen Plausibilität heraus retuschieren lassen.
Graf betreibt damit auf den ersten Blick eine Art zeitliche Paradoxie, ein zweiter Blick aber macht klar, dass sich auf diese Weise zwei Zeitgeschichten an ein und demselben geschichtlichen Ort überlagern. Auf diese Weise wird das grausame deutsche Omen, welches freilich über der Geschichte liegt, aus der Ferne der diegetischen Chronologie in ein unmögliches Jetzt der Handlung verlegt.
Der Film verhehlt also nicht, dass die Barbarei bereits geschehen ist, dass der Gang vor die Hunde bereits hinter uns liegt. Der Film stellt dies regelrecht aus und damit den Gegenwartsbezug her. Was Kästner noch nicht wusste, als sein Buch erschien, weiß Graf und weiß der Film, und das lässt er Figuren und Stadt spüren. Fabian oder der Gang vor die Hunde will keine Zeitkapsel sein. Damit macht Graf klar, dass diese Zeit eben noch nicht zu Ende ist – dass sie immer, vorlaufend, weiterschreitend existiert und in unser ›Jetzt‹ ragt. Wir müssen nur an einer U-Bahn-Station in einen anderen Gang gehen und schon sehen wir an den Häuserfassaden wieder Hakenkreuze.
Anomalie der Gegenwart
Die 50er-Jahre sind in der BRD-Filmgeschichte verpönt. Konformität und Formelhaftigkeit dominierten die deutschen Leinwände und ein dunkler Schatten lag über den eskapistischen Stoffen des freundlichen Heimatfilms: es ist der von Joseph Goebbels deutscher (Alp)traumfabrik. Doch diese Lesart verheimlicht, dass es da auch Anomalien gab. Zum Beispiel Ottomar Domnicks avantgardistischer Spielfilm Jonas aus dem Jahr 1957 – mit Dominik Grafs Vater Robert Graf in der Hauptrolle. Fabian oder der Gang vor die Hunde ist nun die Anomalie der deutschen Film-Gegenwart. So wie Jonas als filmisches Experiment aus dem deutschen Kino der 50er-Jahre herausragte, so ragt nun auch Fabian aus dem Mief der deutschen Kinolandschaft heraus – und das, weil Dominik Graf furchtlos aufs Ganze geht.
Sollte es also in siebzig Jahren noch Filmhistorikerinnen geben – und sollten sie auf die biederen Zeiten des deutschen Kinos des 21. Jahrhunderts blicken, dann werden sie vielleicht ähnlich wie wir heute auf Jonas schauen, und uns fragen, wie zum Teufel ein solches Kino eigentlich möglich war. Wir wiederum haben nun endlich auch einen filmischen Grund ins Kino zu gehen.
Fabian oder der Gang vor die Hunde
D 2021
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Dominik Graf, Constantin Lieb
Darstellende: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker u.a.
Kamera: Hanno Lentz
Schnitt: Claudia Wolscht
Musik: Florian Van Volxem, Sven Rossenbach
Länge: 176 min
ab dem 5.8.2021 im Kino