Murmeltiergrüße aus der HölleNetflix’ „Russian Doll“ ist ein düsterer, grausamer und unfassbar komischer Spaß
8.2.2019 • Film – Text: Susann MassuteDas Netflix-Jahr beginnt vielversprechend – neben der leichtfüßig-awkwarden Serie „Sex Education“ ist vor allem „Russian Doll“ ein Must-See. Nicht nur, aber ganz besonders wegen einer charmant-flegelhaften Natasha Lyonne.
Stell dir vor, es ist dein 36. Geburtstag. Deine Freundin richtet eine hippe Party für dich in ihrem noch hipperen Loft aus, du bringst jedoch wenig Achtung für deine Gäste und für dich selbst mit, und am interessantesten sind israelische Joints mit Kokain und ein One-Night-Stand mit einem fragwürdigen Literaturprofessor. Ach ja, und du stirbst an diesem Tag, immer wieder, und erwachst danach auf deiner halbgeliebten, hippen Party.
So ergeht es Nadia Vulvokov, der sympathischen Anti-Heldin mit schlechten Manieren und roter Mähne (irgendwie scheint das in Literatur und Pop-Kultur immer wieder zu korrelieren). Gespielt von Natasha Lyonne, die man im großen Serienuniversum vor allem als Nicky Nichols aus „Orange is the new Black” kennen dürfte. „Russian Doll” wurde von ihr, Amy Poehler und Leslye Headland produziert, und man kann dem Trio nur dankbar sein, Lyonne eine so kluge und witzig-finstere Rolle auf den Leib geschrieben zu haben.
Denn auch wenn Nadia in ihrer mitunter kauzigen, Bukowski-haften Art und mit ihrer Midlife-Crisis eigentlich jede Person in ihrem Umfeld vor den Kopf zu stoßen scheint, wird im Laufe der Handlung auch deutlich, was für ein reflektierter, sensibler und smarter Mensch sie ist.
Mehr Videospiel als Murmeltier (Spoiler)
Die schönste Ironie ist dabei, dass sie als Videospiele-Entwicklerin arbeitet und offenbar Spieler*innen ihrer Produkte besonders gern und häufig in gemein-schweren Leveln sterben lässt. (Wer die Serie noch sehen möchte und keine Spoiler erfahren möchte – die sind bei einem derartigen Narrativ schwer zu vermeiden – sollte zum letzten Absatz springen.)
Die Analogie zum 90er-Jahre-Filmklassiker „Und täglich grüßt das Murmeltier” mit Bill Murray wird in allen Rezensionen gern gezogen, doch außer der stetigen Wiederholung und einem wiederkehrenden Song zu Beginn – Harry Nilssons „Gotta Get Up” – gibt es außer der grundlegenden Idee eher wenig Gemeinsamkeiten. Jede neu beginnende Zeitlinie ist unterschiedlich lang, manchmal schafft es Nadia recht weit bis in den nächsten Tag und manchmal stirbt sie noch am selben Abend. Sie wird von einem Auto angefahren, sie fällt Treppen und Schächte hinunter, sie ertrinkt und erfriert. Die Kreativität der Todesarten nimmt zu, sobald Nadia ihren Gegenpart Alan trifft, der irgendwie auch immer wieder sterben muss.
Wie die Zuschauer*innen versucht auch sie sich ihren Reim darauf zu machen, verdächtigt erst den israelischen Joint, dann ihren Geisteszustand, den frühen Tod ihrer Mutter und auch ihren Ex-Freund. Anders als beim Murmeltier ist hier auch nicht die Liebe die Lösung, sondern eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen. Wie bei einer Matrjoschka, die namensgebende russische Puppe, entpuppt sich davon nämlich nach und nach immer mehr.
Die Serie erzählt darüber hinaus auch eher Geschichten über Freundschaft als über romantische Liebe und brilliert dabei mit tollen Frauenfiguren in den Nebenrollen, wie Nadias bester Freundin Maxine (Greta Lee) oder ihrer Ziehmutter Ruth (Elizabeth Ashley). Besonders unterhaltsam sind die Seitenhiebe auf die hippen, urbanen Thirty-somethings: „I have a fire escape? Great! I have to change my Airbnb listing then”, sagt Maxine zu Nadia, die nach mehreren tödlichen Stürzen die Treppe meidet und nun die neu entdeckte Feuerleiter vorzieht.
Die Detailversessenheit der Serie macht jedem Easter-Egg-Hunter große Freude: In den immer neu beginnenden Zeitlinien sieht man die gleichen Nebencharaktere in unterschiedlichen Konstellationen – zum Beispiel mal mit Kinderwagen, mal ohne. Und warum verrotten Blumen und Gemüse? Warum sind die Katze Oatmeal und der obdachlose Mann so wichtig? Warum verschwinden Spiegel? „Russian Doll” bietet im Serienfinale einige Antworten, aber klärt sich nicht komplett auf. Angeblich wurde das Konzept mit drei Staffeln bei Netflix gepitcht, also dürfen sich alle neugewonnenen Fans freuen.
Komödiantischer Existenzialismus
Einige Deutungsversuche der Serie bezogen sich auf Erfahrungen mit Drogensucht und psychischen Erkrankungen. Das Gefühl, in einem schrecklichen Loop gefangen zu sein und die Ohnmacht nicht entkommen zu können, lässt sich mit Sicherheit (auch) darauf beziehen. Allerdings zeichnen sich gute Geschichten vor allem durch Bezugsfähigkeit aus – vielmehr könnte man die dargestellten Routinen auch als generelle Analogie auf das Leben lesen. Denn die allermeiste Zeit versteckt man hinter den eigenen Lebensroutinen ja existenzielle Fragen und sieht sich, hoffentlich, eher selten mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Alan und Nadia werden jedoch erst handlungsfähig, als ihnen Letzteres widerfährt, und irgendwie verlieren sie dabei auch nicht ihren Humor. Vielleicht eine etwas kitschige, aber definitiv produktive Lesart.
Und ja, es fällt schwer, sich im nie abreißenden Strom neuer Serien mal wieder auf etwas Neues einzulassen. Schließlich spült Netflix ja auch so viel auf den Startbildschirm, was sich mehr nach Privatfernsehen als nach Qualitätsproduktion anfühlt. Bei „Russian Doll” sollte man sich jedoch keine Sorgen machen. Die Episoden sind angenehm kurz(weilig), das Erzähltempo reißt mit, die faszinierende Hauptfigur Nadia, der gut gewählte Soundtrack (von John Maus über Timber Timbre bis hin zu Ariel Pink) und die schicke Titel-Typografie tun ihr Übriges. Ehe man sich versieht, hat man die Staffel an einem Sonntag durchgeschaut.