Platte im KopfFilmkritik: „Titane“ von Julia Ducournau

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Alle Fotos: © Carole Bethuel

Bei den Filmfestspielen von Cannes wurde Titane mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und seine Regisseurin Julia Ducournau als legitime Nachfolgerin von David Cronenberg ausgerufen. Alexander Buchholz hält den Film, der heute in den Kinos anläuft, vor allem für eins: reines Blendwerk.

Alles, was es gebraucht hat, um die Nullchecker-Jury in Cannes hinters Licht zu führen, war ein läppischer B-Film, wie er normalerweise in der Horrorsparte jedes x-beliebigen VOD-Anbieters unbemerkt versickern würde. Titane ist nur ein Bluff, der in jedem anderen Jahrgang sofort aufgeflogen wäre. Nun aber müssen wir den alle gucken, weil das halt doch noch immer was bedeutet, wenn das wichtigste Filmfestival der Welt sein Grünzeug verteilt.

Kino für die Instagram-Generation

Alexia (Agathe Rousselle) hat seit einem Autounfall eine Platte aus Titan in ihrem Schädel eingebaut – die von der OP davongetragene wulstige Narbe trägt sie selbstbewusst unter ihren hochgesteckten, langen und blondierten Haaren zur Schau. Sie ist ihr Markenzeichen und lässt sie herausstechen unter all den Tänzerinnen, mit denen sie bei einer Autoshow das männliche Publikum unterhält. Einer ihrer übereifrigen Fans bezahlt seine Dreistigkeit auch gleich mit seinem Leben, als er Alexia unaufgefordert küsst und sie ihm daraufhin ihr Haarstäbchen in den Kopf bohrt. Denn: Alexia ist offenbar die mysteriöse Serienmörderin, die Frankreich zur Zeit heimsucht. Als sie aber nach ihrem letzten Killing Spree eine Zeugin zurücklässt, findet sie sich plötzlich auf der Flucht wieder. Um nicht erkannt zu werden, schneidet sie sich die Haare kurz, deformiert ihre Nase und bindet sich die Brüste ab. Und in dieser Gestalt glaubt Feuerwehrmann Vincent (Vincent Lindon) in ihr seinen vor Jahren spurlos verschwundenen Sohn wiederzuerkennen …

Ach ja, ich vergaß: Nachdem Alexia ihren Stalker umbringt, hat sie Sex mit dem Auto, auf dem sie vorher rumgeturnt ist. Und wird davon schwanger. Und sondert fortan Motoröl ab. Und jetzt klingt der Quatsch fast sehenswert, was? Nichts läge mir ferner, als auf Titane neugierig machen zu wollen. Jezebel findet vielleicht, dass die Unvorhersehbarkeit des Plots von Titane dessen große Stärke ist, mich dagegen hat es bereits nach fünf Minuten aus dem Film rausgeworfen und nach zehn Minuten die Sekunden zählen lassen. Und überhaupt: Wirklich unvorhersehbar ist der Film gar nicht. Denn meistens endet eine Schwangerschaft ja nun mal mit einer Geburt. Oder einer Abtreibung. Malt es euch selber aus. Ach ja: Spoiler alert.

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Agathe Rousselle als Alexia

Inzestuöse Amour fou

Öde ist Titane, nichts als inkohärentes Blendwerk. Und nein, Joachim, ich kann mich durchaus auf „(alb)traumhafte Logik“ einlassen, aber muss das denn so langweilig sein? Das surreale Chaos, das Titane einem zumutet, ist doch eher Indiz dafür, dass Ducournau schlicht unkonzentriert bei der Sache ist. Vielleicht ist nicht Kino ihr Medium, sondern Instagram? Jedenfalls empfand ich ihren Film in etwa so bereichernd wie mitternächtliches Doomscrolling. Auf dem Papier müsste mir Titane eigentlich gefallen, es sind aber die Details, die vorne und hinten nicht stimmen. Die inzestuöse Amour fou zwischen Alexia und ihrem „Vater“ Vincent, die zentral für Titane wird, fällt völlig flach. Ihre intime Beziehung bleibt bloße Behauptung, was nicht so sehr an den Darstellern liegt, sondern an der dürftigen Figurenentwicklung. Wie soll wiederum das Publikum eine Beziehung zu den Leuten auf der Leinwand entwickeln, wenn deren Psychologie nur Kraut und Rüben ist? Was da zwischen den beiden läuft, bleibt völlig vage, und dennoch konstruiert sich der Film sein Ende als melodramatischen Höhepunkt zurecht. Ein Melodram braucht aber eine richtige Startbahn, sonst kann es nun einmal nicht abheben. Cronenberg, als dessen Epigone Ducournau sich hier lediglich outet, hat das immer verstanden.

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Vincent Lindon als Vincent

Und: Da ist nichts abgründig. Überhaupt, wer wird denn heutzutage im Angesicht von so ein bisschen Gehaue und Gesteche gleich die Contenance verlieren? Als hätte es Game of Thrones nie gegeben, einer der größten Mainstream-Hits aller Zeiten. Ducournau findet für ihr ach so haarsträubendes Grand Guignol keine besonders eindrücklichen Bilder. Ausgerechnet die Sex-Szene im/mit dem Auto ist so ziemlich das Einfallsloseste im ganzen Film. Wie genau der Cadillac sein Sperma in sie reinspritzt, das hätte man ja durchaus zeigen oder es wenigstens irgendwie andeuten können. Wie das vonstatten geht, bleibt aber völlig im Unklaren. Wie Alexia selbst versteckt sich der Film auch immer hinter verschlossenen Badezimmertüren, weil ihm was peinlich ist. Und schlechter Stil ist das auch, von Crash und Tetsuo zu klauen, ohne das kenntlich zu machen.

Nun gut. Vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht habe ich irgendwas verpasst oder nicht verstanden. Möglicherweise ist Titane eine späte Verfilmung von Donna Haraways Cyborg-Manifest und hat tatsächlich was Interessantes zu dem Themenkomplex fluider Identitäten beizutragen. Ach nee. Titane gibt‘s nur, weil Julia Ducournaus Papa sich eigentlich einen Sohn gewünscht und seiner Tochter deswegen aus schlechtem Gewissen die teure Filmhochschule bezahlt hat.

Titane
Frankreich/Belgien 2021
Regie: Julia Ducournau
Drehbuch: Julia Ducournau
Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Laïs Salameh, Garance Marillier, Mehdi Rahim-Silvioli, Bertrand Bonello
Kamera: Ruben Impens
Schnitt: Jean-Christophe Bouzy
Musik: Jim Williams
Laufzeit: 108 min
ab dem 7.10.2021 im Kino

KonzerterinnerungenSaint Etienne – Berlin, Marquee, 10. Mai 1994

Cindy, Autechre, Markus GüntnerWochenend-Walkman – 08. Oktober 2021