Kritik der Kalifornischen Ideologie IIUnderstanding Digital Capitalism | Teil 8

Kritik der Kalifornischen Ideologie II

Im ersten Teil leitete unser Autor Timo Daum die „Kalifornische Ideologie“ her: Sie bildet sich durch Laissez-faire-Kapitalismus, das Selbstverständnis, „auserwählt“ zu sein, den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben sowie eine ordentliche Portion Hippie-Heritage. Ein entscheidender Faktor kommt noch hinzu: eine unbedingte, bis in die Religiosität hinein getriebene Technikgläubigkeit.

##1. Technozentrismus
Richard Barbrooks und Andy Camerons mittlerweile 20 Jahre alter Essay „Californian Ideology“ ist zum Klassiker geworden. Der Text ist zur Zeit der ersten Internet-Euphorie entstanden, beschreibt aber auch heute noch erstaunlich treffsicher Agenda und Vorstellungswelt von Google & Co.: Den beiden Autoren zufolge vermischt die Religion des Silicon Valley eher linke Ideen aus der kalifornischen Gegenkultur der 60er-Jahre mit eher rechten Idealen eines radikalen Individualismus und Wirtschafts-Liberalismus.

„By mixing New Left and New Right, the Californian Ideology provides a mystical resolution of the contradictory attitudes held by members of the 'virtual class'. Crucially, anti-statism provides the means to reconcile radical and reactionary ideas about technological progress.“

Die dritte Zutat dieses Ideologie-Mix nennen sie Technozentrismus, den Glauben an die Fähigkeit moderner Telekommunikation, alle Probleme der Menschheit lösen zu können. Laut Barbrook und Cameron gab es eine Hippie-Fraktion, „(that) believed that technological progress would inevitably turn their libertarian principles into social fact. Crucially, influenced by the theories of Marshall McLuhan, these technophiliacs thought that the convergence of media, computing and telecommunications would inevitably create the electronic agora - a virtual place where everyone would be able to express their opinions without fear of censorship.“

##2. Dem Ingeniör ist nichts zu schwör (Daniel Düsentrieb) oder „internet centered cyber solutionism“
Gibt es ein Problem – egal wie global oder komplex es auch sein mag – so findet sich auch eine technische Lösung dafür! Oder anders ausgedrückt: Schwierige Probleme können durch gute Ingenieure gelöst werden. Jared Cohen, Leiter des Google Think Tanks, bringt das folgendermaßen zum Ausdruck:

„Ingenieure waren niemals so wichtig wie heute, um die Probleme der Welt zu lösen. Daraus resultiert auch eine ganze Menge an politischem Aktivismus. Nimm nur die tunesischen Revolutionäre, die jetzt als Android-Entwickler arbeiten.“

Der Internet-Kritiker Evgeny Morozov bezeichnet dieses Dogma, für alles eine pragmatische Lösung zu finden, als Solutionism. Google attestiert er demzufolge einen „enthusiastischen Glauben in die befreiende Kraft der Technik“. Zu Anti-Staatlichkeit und entfesseltem Liberalismus kommen technologische Weltverbesserungs-Phantasien hinzu. Insbesondere Online-Kommunikation sei per se demokratisierend, bildend, Hierarchien verflachend – allen Gegenbeispielen (China, Iran, NSA) zum Trotz. Diesen Mythos bezeichnet Morozov treffend als „Cyber-Utopianism“, eine Denkweise, die auf John Perry Barlow und Marshall McLuhan zurückgeht und im Silicon Valley zahlreiche Anhänger findet: „ein naiver Glaube an das emanzipatorische Wesen der Online-Kommunikation, der sich hartnäckig weigert, die Schattenseiten anzuerkennen.“ Überhaupt ist die Antwort auf jede Frage erst einmal: das Internet. Als dezentrales, hierarchiefreies, dynamisches Netzwerk mit zahllosen Diensten für demokratische Meinungsbildung und -äußerung führt es automatisch zur Verbesserung der Welt: Internet-Zentrismus. Jedes politische und soziale Problem wird erst einmal mit der Logik des Internets in Angriff genommen: Die gewünschten Entwicklungen stellen sich automatisch ein, sobald die Infrastruktur einmal etabliert ist. Das Internet erfüllt so die nicht-eingelösten Versprechen der Hippies.

##3. Wired
Das „Zentralorgan der kalifornischen Ideologie“ ist nach wie vor WIRED: das 1993 gegründete Technologiemagazin – eine deutsche Ausgabe gibt es seit letztem Jahr auch – propagiert digitalen Lifestyle und Konsum, feiert Gadgets, Erfindungen und geniale Digital-Unternehmer. Wired steht wie kein anderes Medium für den quasi-religiösen Technik-Fetischismus des Silicon Valleys. Der Techno-Futurismus von Wired wird etwa von deren Kolumnist Paul Saffo propagiert. Er gilt als Vertreter der strong AI (Artificial Intelligence), also der Vorstellung, dass Künstliche Intelligenz bald in der Lage sein wird, menschlichen Intellekt nachzubilden. Er lehrt in Stanford (wo sonst!) und leitet den Studiengang „Future Studies and Forecasting„ an der „Singularity University“, dazu später mehr.

Moore´s Law

Das Moore'sche Gesetz. Quelle: Wikimedia

##4. Moore‘s Law
Im Silicon Valley ist man überzeugt, im „age of the exponential” zu leben – technologischer Fortschritt findet nicht linear statt, sondern, wie die beiden MIT-Professoren Brynjolfsson und McAfee in ihrem Bestseller „The Second Machine Age” konstatieren: „Technischer Fortschritt entwickelt sich exponentiell“. 1965 formulierte der damalige Intel-Chef Gordon Moore eine Art Faustregel für die mikroelektronische Revolution, nach der sich die Komplexität integrierter Schaltkreise alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Unter Komplexität verstand Gordon Moore die Anzahl der Schaltkreiskomponenten auf einem integrierten Schaltkreis. Dieser Technologiefortschritt bildet eine wesentliche Grundlage der „digitalen Revolution“. Bis heute verdoppeln sich nicht nur Prozessorleistung, sondern auch Speicherkapazitäten und Übertragungsraten. Moore‘s Law ist ein Paradigma, kein Naturgesetz. Eine empirische Regel, die die rasante Entwicklung der Computertechnik beschreibt.

World Population Development Index

Exponentiell: das Wachstum der Menschheit

##5. Exponentialism
Der „Exponentialism“ überträgt diese Beobachtung, vergleicht sie mit biologischen Wachstumsvorgängen, die tatsächlich exponentiell ablaufen, und leitet daraus ein Szenario immer beschleunigter technologischer Entwicklung ab. Dabei werden gesellschaftliche Umbrüche und bahnbrechende Erfindungen gar nicht konkret analysiert, es findet vielmehr eine Art Kurvendiskussion statt.

„Eine Analyse der Technikgeschichte zeigt, dass die technologische Veränderung exponentiell verläuft, im Gegensatz zur allgemeinen Sichtweise, sie sei „intuitiv linear“. Wir werden im 21. Jahrhundert nicht 100 Jahre Fortschritt erleben, sondern eher 20.000 Jahre (bei heutiger Geschwindigkeit).“

Soweit Ray Kurzweil in seinem Buch „The Singularity is Near“. In seiner Starrheit erinnert diese optimistische Wirtschafts-Mathematik umgekehrt an Malthus. Der Pessimist der klassischen Nationalökonomie hielt es für erwiesen, dass die Menschheit in geometrischer Progression (also exponentiell), die Nahrungsmittel aber nur in arithmetischer Progression (also linear) wachsen, und leitete daraus seine Prognose einer Überbevölkerungskatastrophe ab.

Singularity

Die Entwicklung nimmt exponentiell zu, oder umgehrt: die Zeit bis zum nächsten großen Ding wird immer kürzer

##6. Singularitarianism
Kurzweil gilt als Vordenker des Transhumanismus. Er prognostiziert für das Jahr 2045 eine Singularität in der technologischen Entwicklung, die eine künstliche Intelligenz ermöglicht, mit welcher die Menschheit Unsterblichkeit erlangen kann:

„Die Singularität wird uns die Begrenzungen unserer physischen Körper und Hirne überwinden lassen. Wir erlangen die Macht über unser Schicksal. Unsere Sterblichkeit wird in unseren eigenen Händen liegen. Wir werden so lange leben, wie wir wollen.“

Spätestens hier ist der religiöse Charakter nicht mehr zu leugnen: In dieser Phantasie der Singularität, einer Art technologischer Unendlichkeit (haben wir nicht in der Schule gelernt, nicht durch Null zu teilen?), verschwimmen die Grenzen zwischen Technologie und Biologie, Menschen und Maschinen. Das Wassermann-Zeitalter der New-Age-Bewegung kommt doch noch! Klingt das sehr verrückt? Nicht im Silicon Valley: Der Mann ist seit 2012 Leiter der technischen Entwicklung bei Google!

Summer of Code

Hochbegabte, Nerds und Risikokapital statt Hippies, Drogen und Musik: Googles „Summer of Code"

##7. Californian Ideology today: Vom „Summer of Love“ zum „Summer of Code"
Insbesondere Google ist bekannt für seine Mega-Projekte: Alle Bücher der Welt digitalisieren (Google Books), die ganze Erdoberfläche kartieren (Google Maps), die Erde in einer Simulation nachbauen (Google Earth), Internet-Zugang mit Fesselballons ermöglichen etc.

„Das Ziel von Google ist es, die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen.“

Soweit Googles offizielles Unternehmensleitbild. Das ist für ein kapitalistisches Unternehmen erstaunlich, das ist nah dran am Konzept einer öffentlichen Bibliothek, an freiem Zugang zu einen öffentlichen Gut. Die an sich wirtschaftsliberale Anti-Staatlichkeit hat gewisse Berechtigung angesichts des Scheiterns staatlicher und überstaatlicher Institutionen bei Menschheitsaufgaben wie Wasserversorgung, Gesundheit und Bildung. Oder anders ausgedrückt: Wie lange hätte die UNO gebraucht, um „PageRank“ zu programmieren? Google ist nicht Coca-Cola oder Walmart, sie verstehen sich als Missionare einer digitalen Agora des Informationsaustauschs. Wenn man so will, ist Google tatsächlich der Whole-Earth-Catalogue unserer Tage! Richard Barbrooks und James Camerons Californian Ideology (ist auch heute noch ein Schlüsseltext zum Verständnis der Vorstellungswelt des Silicon Valley: Gründe ein Unternehmen, verbessere die Welt und verdiene dabei auch noch Geld!

Seit 2005 organisiert Google unter dem Titel „Summer of Code“ ein jährliches Programmier-Festival. Der Name verweist unzweifelhaft auf den Kalifornischen Summer of Love der Hippies Ende der 60er Jahre. Timothy Leary prägte bei einem Hippie-Demonstration im Golden Gate Park in San Francisco 1967 den kalifornischen Gegenkultur-Slogan überhaupt: „turn on, tune in, drop out“. Bei Googles Version des „Summer of Love“ kommen nicht mehr Hippies, Drogen, Musik, Drop-outs zusammen, sondern Hochbegabte, Nerds und Risiko-Kapital geben sich die Hand. Aus dem Sit-in ist ein Assessment Center geworden, dessen Motto „Switch on, log in, roll out“ („Schalt an, melde dich an, produziere“) lauten könnte.

Zum ersten Teil von „Kritik der Kalifornischen Ideologie“ geht es hier.

Links und Quellen:
Barbrook, Richard. Andy Cameron: „The Californian Ideology“. Science as Culture 6.1 (1996): 44-72
Kurzweil, Ray: The Singularity is Near, New York 2005
Morozow, Evgeny: The Net Delusion, New York 2011
Cohen, Jared, zitiert nach: „The Circle“ von Dave Eggers. Geheimnisse sind wie Krebs
Brynjolfsson, Erik, McAffee, Andrew: The Second Machine Age, New York 2014
Keen, Andrew: The Internet is not the Answer, New York 2015

Zur Übersicht aller Texte der Reihe »Understanding Digital Capitalism«.

Timo Daum arbeitet als Dozent in den Bereichen Online, Medien und Digitale Ökonomie. Zum Thema Understanding Digital Capitalism fand vor einiger Zeit eine Veranstaltungsreihe in Berlin statt.

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