„Erinnerungen sind kostbar: gute wie schlechte“Wie es ist, sein Gedächtnis zu verlieren – ein Gespräch mit dem Buchautor und Sommelier Max Rinneberg

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Im Film wird der Augenblick des Wiedererwachens im Krankenhaus nach dem Unfall fast immer aus der Sicht des Betroffenen gezeigt: Der Nebel vor seinen Augen lichtet sich, das grelle Licht wird normal, die hallenden, entfernten Stimmen werden deutlicher. Und irgendwann kommt die Klarheit zurück, der im Bett Liegende kann die Personen um sich herum zuordnen – kenne ich, kenne ich nicht. Manchmal dauert es, aber irgendwann wird es schon wieder zurück kommen, das Gedächtnis.

Was aber wenn nicht, wenn nie? Dann ergeht es einem so wie Max Rinneberg: Mit 17, nach einem Treppensturz, war alles weg. Und blieb alles weg: Eltern, Geschwister, Freunde, Ausbildung, Hobby, alles, was bis daher passiert, erlebt worden war – weg. Oder ist, aus Rinnebergs Perspektive, quasi nie da gewesen. Denn geht eine Erinnerung verloren, dann kann man sich ja nicht einmal dran erinnern, dass es sie gegeben hat. Was bleibt, ist nichts. So musste Max Rinneberg sein Leben neu lernen. Er wurde ein ganz anderer: Der alte Max war ein Zahlenmensch und Marathonläufer, der neue ist ein Genussmensch, der Gäste verwöhnt, statt Excels vollzutippen. Er hat ein Buch über seine Geschichte geschrieben: „Du wachst auf, und dein Leben ist weg.“ Jan-Peter Wulf hat mit ihm gesprochen.

Max, im Buch beschreibst du das Wiedererwachen nach dem Unfall wie eine Geburt. Wie deine Geburt.
So war es für mich auch. Ein Eintreten in die Welt, ein Aktivieren der einzelnen Schritte. Was mich völlig überfordert, aber zugleich begeistert und neugierig gemacht hat. Ich hoffte, ein kleines Baby zu sein.

Man kann es sich kaum vorstellen: Jemand erwacht, ist fähig zu reflektieren und seine Umwelt wahrzunehmen – und wünscht, dass er ein Baby ist und nicht in dem großen Körper steckt, in dem er steckt.
Das Konzept des Lebens habe ich in dem Augenblick verstanden, aber ich habe einfach gedacht und gefühlt: Ich bin jetzt am Punkt meiner Geburt.

Deine Eltern, die bei dir im Krankenhaus waren, hast du nicht erkannt. Sie waren dir völlig fremd. Du musstest sie erst neu wieder kennen lernen. Wie kann das sein, dass man auf der einen Seite nicht weiß, wer vor einem steht, aber gleichzeitig weiß und versteht, was Leben ist?
Bei meinem Sturz ist nicht alles kaputt gegangen. Ich konnte ja immer noch sprechen und mich ausdrücken, ich musste also nicht komplett bei Null anfangen. Das Langzeitgedächtnis unterteilt man in fünf Bereiche: Einen für das motorische Gedächtnis, einen für Unterbewusstes, einen perzeptuellen, einen für reines Wissen und einen autobiografischen für Erlebtes.

Dein autobiografisches Gedächtnis war und ist bis heute komplett weg.
Leider. Ich habe erst nach und nach entdeckt, was weg und was noch da ist. Als wir mit der Familie nach London geflogen sind, habe ich festgestellt: Ich kann kein Englisch mehr. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.

Gab es auch positive Erlebnisse?
Keine, die mir bewusst wären.

Max Rinneberg

Früher ging Max ins Steuerbüro, heute ist er Wein- und Genussmensch.

Jeder Mensch aus deinem Umfeld, dem du begegnet bist – die Familie, alte Freunde, Bekannte – war ja nun komplett neu für dich. Da diese Menschen dich aber natürlich kannten, musstest du ihnen viel Vertrauen entgegen bringen, oder?
Einen riesigen Vertrauensvorschuss. Ich habe versucht, jedem erst einmal ein Grundvertrauen entgegen zu bringen, immer in dem Bewusstsein: Das kann auch nach hinten losgehen. Ich bin froh, dass keine zweite Familie im Krankenhaus aufgetaucht ist (lacht).

Du warst Fußballtrainer. Du wärst ein paar Tage nach dem Unfall einen Marathon gelaufen. Du warst mitten in der Ausbildung zum Steuerfachangestellten. Und konntest dich an nichts davon erinnern. Im Buch beschreibst du unter anderem, wie du kopfschüttelnd vor deinen vielen Sportsachen stehst.
Anfangs bestand ja die Hoffnung, dass alles zurück kommt und es nur eine kurze Phase ist. Deswegen bin ich ja auch zurück an die Orte meines vorherigen Lebens gekehrt, aber das war eher belastend als fördernd. Ich saß dort und fragte mich: Das soll ich gewesen sein? Was für ein Typ muss das sein, dem so etwas gefällt?

Was für ein Typ ist der alte Max?
Ein geradliniger, der sich zum Marathonlaufen diszipliniert. Der mit Zahlen jonglieren kann. Das könnte der neue Max nicht mehr. Die Steuererklärung reicht mir heute.

Die James-Blunt-CD hörst du heute auch nicht mehr.
Ganz selten. Ist ziemlich weit unten auf meiner Playlist, sagen wir es so.

Was steht oben?
Michael Bublé, Journey, Patricia Kaas, U2.

Auch nicht unbedingt Sachen, die ein typischer 27-Jähriger hört.
Stimmt (lacht). Das ist Musik, der ich begegnete, nachdem ich anfing, in der Bar zu arbeiten.

Und in Kuba bist du auf den Geschmack von Cocktails und Barkultur gekommen. Daraus wurde schließlich dein neuer Beruf.
Ich war erst einmal Key Accounter in einem Fliesenhandel und habe nebenbei in der Bar „30 Leut'“ in Aschaffenburg gearbeitet. Als Achim, der Besitzer, Vater wurde und die Bar aufgab, dachte ich: War ein schöner Ausflug. Doch dann kam ein neues Gastroprojekt, das „moments“. Ich habe mitgearbeitet und nach zwei Wochen stand ich vor der Entscheidung: Voll einsteigen oder gar nicht? Ich habe meinen vorherigen Job gekündigt.

Heute, zwei Jahre später, bist du Sommelier.
Ich würde mich eher als einen Genuss-Reiseführer bezeichnen, der mit Weinen, im Zusammenspiel mit der Küche, ein Erlebnis für seine Gäste schafft. Ich bin unheimlich interessiert an den Menschen, denen ich begegne. Wer sitzt mir da gegenüber? Ich versuche, für die Gäste unvergessliche, wunder- und genussvolle Momente zu kreieren und bleibende Erinnerungen aufzubauen.

Baust du auch Erinnerungen für dich selbst auf?
Ich notiere mir eigentlich täglich in zwei, drei Stichworten, was ich an diesem Tag erlebt habe. So trainiere ich mein Gedächtnis. Erinnerungen, gute wie schlechte, sind sehr kostbar.

Auch Essen und Trinken hat viel mit Erinnerungen zu tun. Dabei erinnert man sich an schöne Momente, oder an die Kindheit, was da gekocht wurde.
Wir hatten erst vor ein paar Tagen bei einer Verkostung im Team: Eine Kollegin sagte, der Wein erinnere sie an die Marillenbäume in Omas Garten. Solche Erinnerungen fehlen mir, was sehr schade ist. Und weil das so ist, gehe ich bei jedem Wein mit meiner Nase ganz tief ins Glas, um die Aromen aufzusaugen. Oder atme draußen tief Luft, um den Duft des Herbstes zu erfassen. Oder rieche beim Einkaufen an den Bio-Früchten.

Du warst zuletzt in Osttirol tätig und fängst jetzt am Stiftskulinarium St. Peter in Salzburg an …
… das ist das älteste Restaurant Europas! Rakhshan Zhouleh, der Chefsommelier, war dreimal Sommelier des Jahres. Von ihm werde ich sicher viel lernen können.

Welchen Wein empfiehlt uns der Experte?
Ich war gerade auf einer Weinreise im Burgenland und muss sagen, es ist schon klasse, was Georg Prieler dort macht, zum Beispiel seinen Cabernet Sauvignon. Vor allem der 2008er ist ein großer Jahrgang.

Das Jahr deiner zweiten Geburt.
Stimmt (lacht).

Was wünschst du dir?
Dass meine Neugier nie aufhört. Und dass wir in unserer Familie noch viele gemeinsame Momente erleben werden. Wir hatten schon einige, tolle und traurige.

Vielen Dank, Max.

du wachst auf und dein leben ist weg

Max Rinnebergs Autobiographie „Du wachst auf, und dein Leben ist weg. Die Geschichte meines Gedächtnisverlusts“ ist bei Patmos erschienen.

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