Rewind: Klassiker, neu gehört4hero – Two Pages (1998)

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Drum and Bass hat ja bekanntlich viele Seiten. Hardcore, Jungle, Two-Step, Half-Step, Liquid Funk, Abstract, Amen-Gewitter – am Ende sind es immer die Breakbeats, die als kleinster gemeinsamer Nenner übrig bleiben. Und mit denen kannten sich 4hero immer aus. Mark „Marc Mac“ Clair und Denis „Dego“ McFarlane haben die Szene mit aus der Taufe gehoben, entscheidend geprägt und ihren Erfolg geebnet – mit ihren eigenen Produktionen und als Teil des Reinforced-Kollektivs, einem der wichtigsten Label des Genres überhaupt. Bei ihnen haben die späteren Stars das kleine Einmaleins gelernt. 1998 wagten die beiden Musiker schließlich selbst den nächsten Schritt. „Two Pages“ – ihr drittes Album – erschien auf Talkin' Loud, der Major-Label-Spielwiese von Gilles Peterson, und sollte die ganz große Geste werden. 4heros Ziehsohn Goldie hatte mit „Timeless“ drei Jahre zuvor ein epochales Konzeptalbum hingelegt, „Two Pages“ ist ähnlich umfangreich. Und doch ganz anders. In zwei autarken Teilen sollte hier der ganze Kosmos der Londoner Produzenten ein Denkmal bekommen. Sanft, durchdacht gejazzt und mit vielen Gästen – zum Beispiel Ursula Rucker, Ike Obiamiwe, Carol Crosby am Mikrofon – im ersten, und gewohnt radikal „trackig“ im zweiten. Da fragt man sich zunächst: Geht das überhaupt und vor allem auch zusammen? Raabenstein und Herrmann lassen 20 Jahre später die so unterschiedlichen Beats auf sich runterprasseln, zünden eine Kerze des Gedenkens an, merken schnell, dass des einen Drum and Bass nicht des anderen Drum and Bass ist – und ziehen gerade noch rechtzeitig vor dem Best-Of von Galliano den Stecker des Vergessens. Die Pionierarbeit von 4hero bleibt derweil unangetastet.

Martin Raabenstein: Eindeutige Premiere. Mir fällt kein Einstieg ein, keine Anekdote, noch nicht mal ein boshaftes Dissen.

Thaddeus Herrmann: Und doch hat er wieder das erste Wort. Ha! Dann lege ich zunächst mal die Fakten auf den Tisch. Es gibt nicht gerade viele Dons im Drum and Bass, Marc und Dego – 4hero – sind die größten, wichtigsten und Väter aller anderen. Sie haben geschuftet für den Breakbeat, vom ersten Tag an. Reinforced, ihr Label, ist ein echtes Powerhouse. Was sie mit ihrer Crew A&R-mäßig dort auf die Beine gestellt haben, ist auch heute noch schlicht unfassbar. Das gilt auch für ihre eigene Musik. Ob nun 4hero, Tek 9 oder Jacob’s Optical Stairway – alles großartig. Die beiden haben an den Drum and Bass geglaubt und sich nicht vom Weg abbringen lassen. Was vielleicht ihr Untergang war. Ihr Sound wurde nur langsam schneller, nur zum Teil darker, und weil sie generell nur wenig Lust auf Öffentlichkeit hatten, hat ihr Ziehkind Goldie dann halt die Lorbeeren eingesteckt. Also: Kniefall vor den beiden aus Dollis Hill. Allerdings passt „Two Pages“ aus meiner Perspektive in diese Lobhudelei nur bedingt hinein. Man kann – und muss es wahrscheinlich auch – auf mindestens zwei Weisen lesen und hören. Als Rückbesinnung auf die Ursprünge und Einflüsse oder aber als einfache Verweigerungshaltung. Nach dem Motto: Jetzt haben wir unseren Major-Vertrag, jetzt machen wir erst recht das, was wir wollen und genau das, was niemand erwartet.

Martin: Hier und da blitzt noch eine gewisse aufgeregte Gelassenheit durch, teilweise ist das durchaus spannende Musik, als Ganzes aber findet sich dazu so gar keine Versprachlichung in mir. Keine Worte, alles sehr eigenartig.

„Ich finde es interessant, wie sich Marc und Dego hier – auf der „Page One“ – aus ihrer eigenen Geschichte trotz der offensichtlichen Referenzen auf ihr Erbe praktisch herausschreiben.“

Thaddeus: Ja, das will schon mit großer Sorgfalt eingeordnet werden. Die Einflüsse, die hier im Vordergrund stehen und verhandelt werden, haben im Drum and Bass natürlich immer mitgeschwungen – wie in jedem anderen Genre auch, das etwas auf sich hält. Und gerade weil 4hero mit ihrer eigenen Musik ja immer so zwischen den Stühlen hockten, kann ich den musikalischen Dreh der Platte durchaus nachvollziehen. Das ist schon eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit dem großen Ganzen, also dem Kosmos. Das wird im ersten Teil besonders deutlich. Es ist eine gute Idee, auch auf die Vocals zu hören. Da wird mitunter ja das ganz große Fass aufgemacht, das sich an Sun Ra etc. rankuschelt – das dringliche Verlangen nach dem Abflug, die Alienation etc. Aber bleiben wir bei der Musik. Ich finde es interessant, wie sich Marc und Dego hier – auf der „Page One“ – aus ihrer eigenen Geschichte trotz der offensichtlichen Referenzen auf ihr Erbe praktisch herausschreiben. Die Breaks werden „entbreakt“, swingen im Hintergrund noch mit, aber gar nicht mehr zwingend in jedem Track. Stattdessen tauschen sie den Computer mit Session-Musikern und besetzen selbst nur noch eine Rolle unter vielen. Wir haben es hier also mit einer Anhäufung von Antäuschungen zu tun. Die – da bin ich ehrlich – funktionieren für mich mal besser, mal schlechter. Es sind bei aller Buntheit dann doch ein paar zu wenige Kniffe, die auf Albumlänge gestreckt werden. Gleichzeitig mag ich den Aufbau. Denn die kurzen Interludes, die ja eigentlich im Flow so gar nicht passen wollen, deuten den Weg zur „Page 2“.

„Das Möchtegern-Best-Of-Album des Acid Jazz.“

Martin: Ich bin und bleibe da reserviert. Dies ist das letzte Abteil in einem langen Zug für mich, der mit Galliano und Omar Anfang der Neunziger begann und hier auf „Two Pages“ leise, aber eindrücklich Adieu sagt. Du hast es ganz schön zusammengefasst, wir lauschen einem sich an zu vielen beindruckenden Vorbildern vorbeischlängeln müssenden Sound-a-like. Das Möchtegern-Best-Of-Album des Acid Jazz, selbst James Last hatte da mehr Leidenschaft im Taktstock. Talkin’ Loud umtänzelt sich selbst. Die brillante Geschichte des Labels hätte weitaus besseres verdient. Selbst Ursula Rucker zerrt das gestrandete Boot nicht mehr zurück auf die Themse.

Thaddeus: Ha! Geschichte ist ein gutes Stichwort. Sie wird ja immer aus mehreren Perspektiven erzählt, und hier treffen unsere beiden ganz unterschiedlichen musikalischen Sozialisierungen aufeinander. Wir nähern uns der Platte unter vollkommen anderen Bedingungen und ordnen sie dementsprechend auch ganz anders ein. Für mich tauchen 4hero hier mehr oder weniger plötzlich im Talkin’-Loud-Umfeld auf und liefern eine ebenso mehr oder weniger angemessene Platte. Du kommst aus der Talkin’-Loud-Tradition und findest das eher lasch. Und da bin ich bei dir. Für mich hängen hier zwei Helden im Studio und zerbrechen sich am Jazz den Kopf. Genau das haben andere für dich schon besser umgesetzt, sich den also Breakbeats nicht aus der Abstraktion des Drum and Bass heraus genähert, sondern sie einfach immer als das begriffen, was die Breaks für gestandene Traditionalisten ja auch waren: Breaks. Ich finde das Album sehr ambitioniert, die Idee der „Page One“ geht für mich letztlich aber nicht wirklich auf. Findest du nicht auch, dass trotz aller Session-Energie hier alles sehr gleichförmig und merkwürdig starr sequenziert klingt? So als hätten Mark und Dego die Quantisierung des Atari auf die Kopfhörer der Musiker gelegt. Komischer Groove. Und noch komischere Streicher.

4hero-Porträt

4hero, 1996. Foto: Elke Meitzel für De:Bug.

„Elektronischen Drive kann man nicht so einfach auf ein Notenblatt übertragen.“

Martin: Nun, die Roland TR-808 ist eben Gott. Diesen muss man anbeten, Opfer müssen dargebracht werden. Alles andere zieht bitterliche Rache nach sich. Hier fehlt so ziemlich alles, was Drum and Bass für mich ausmacht, der Sub-Bass, der Groove, die Vibes eben. Und ja: Mein Drum and Bass ist nicht dein Drum and Bass. Mir ist da auch Jacke wie Hose, ob sich zwei Jungens aus London die Köpfe martern, besser – sich die Zähne am Jazz ausbeißen –, um in ihnen fremden Sandkästen zu kratzen. Verglichen mit den Originalen aus den 60ern und 70ern verbleibt das doch in gut gemeintem, aber seichtem Schulorchester-Tüddeldü. Das mag für den Abschlussball reichen, lange erinnern wird sich da keiner dran. Die zwingende Kraft der Elektronik ist schmerzlich zu vermissen. Diese auf weiten Strecken des Albums im Studio an sich selbst verzweifelnde, mangelnde Chuzpe, will einfach nicht fliegen. Oder es war Unerfahrenheit. Die hier deutlich hörbare Einschränkung, die den Jazz ja definierende Improvisationsgabe, hinterlässt in Folge tumbe, schlappe Flügelschläge. Die Erfahrung fehlt, oder das Vertrauen, einfach Dritte die Orchestrierung ihrer Idee umsetzen zu lassen. Den elektronischen Drive kann man nicht so einfach auf ein Notenblatt übertragen. Hinzu kommt – möglicherweise lag der Mangel in der dräuenden Spielstärke der Jazzmusiker selbst. Erst zwanzig Jahre später, mit der Generation um Kamasi Washington, scheint die ursprüngliche Kraft des überzeugenden, treibenden Jazz wieder zu packen. Hör dir mal „Star Chasers“ genau an, das ist Makulatur in Reinform. Mit diesem Rumgesusel dann noch eine Mercury-Nominierung abzuräumen, ich bitte dich, geht’s noch?

Garten-Breaker

2014 buddelten wir ein DJ-Set von 4hero von 1998 aus, dem Jahr, in dem „Two Pages“ erschien.

Garten-Breaker
4hero-Artwork

Thaddeus: Ich habe ja schon darauf hingewiesen: Das ist alles sehr ambitioniert und scheitert letztlich an sich selbst. Ich kann dir nur beipflichten, auch aus meiner Drum-and-Bass-Perspektive. Das groovt nur, wenn der Groove ein Sample ist. Die Gleichförmigkeit der Arrangements ist schwierig bis langweilig. Hier treffen sich zwei Welten, die sich nicht sonderlich viel zu sagen haben. Aber: Ich nehme lieber diese seichte Variante hier, als die von Roni Size, der ja auch versuchte, mit Reprazent, den Bristol-Sound auf die Bühne zu bringen. Immerhin wurde er dabei praktisch taub. Für mich ist das hier eine Phase von 4hero. Die beiden waren auf der musikalischen Suche beziehungsweise im Umbruch. In meinem Ansehen sinken sie deshalb aber nicht. So. Jetzt bitte die „Page 2“.

Martin: Yep, da sind sie, deine wunderlich blinkenden Maschinchen und zack – alle rennen sofort zurück auf den Floor. Mir ist wirklich nicht ganz klar, was man mit dieser Gegenüberstellung eigentlich wuppen wollte. Ich meine, wir beide sind ja wahrlich selten einer Meinung, aber wir spielen auch gerade kein gemeinsames Album ein. Bei „In The Shadows“ wird alles genau richtig gemacht, der Track geht nicht so kläglich in den Abgrund, wie es die erste Seite vormacht.

Thaddeus: Die Gegenüberstellung verstehe ich auch nicht, würde aber mutmaßen, dass sie nicht so gedacht ist, sondern eher ergänzend wirken soll, um das Bild zu vervollständigen. Das Zusammenspiel mündet für mich aber eher in einem Zerrbild, in dem ich mich überhaupt nicht zurechtfinde. Aber wir schauen ja auf die zweite Seite, sind mittendrin im bizarren Reinforced-Kosmos und seinem ganz speziellen Groove. Wie die beiden die Tracks zusammenbauen, ist schon fantastisch. Was ja auf ihren Ruf einzahlt. Sie klangen einfach schon immer anders, waren Ideengeber und darum auch schneller bei der nächsten. Hier tritt das in perfekter Brillanz zutage, was auf der „Page One“ dann doch über weite Strecken kläglich scheitert. 4hero war immer mehr als Drum and Bass. Techno und Electro spielten ebenbürtige Rollen. Die beiden Musiker beherrschen einen Schulterschluss, den in der Drum-and-Bass-Community nur wenige meisterten.

Martin: Da verträgt der Biertrinker eben den Wein nicht, oder – Schuld am Schädelweh ist immer der letzte Drink. Wäre dieses Album 1993 erschienen, mochte das eventuell noch Sinn gemacht haben, das entschuldet die mangelnde Qualität der eingesetzten Studiomusiker aber nicht. Da hatte jemand mal wieder zu viel Patte auf der Platte und ist selbstberauscht den Hang hinunter getorkelt. Dumm gelaufen. Ich kranke aber genau darum immer noch an der massiven Anerkennung von „Two Pages“. Was genau haben die Leute damals alles in diese dünne Suppe hineininterpretiert? Was haben sie erwartet, den neuen Messias, nur eben ohne Bart und Latschen?

Thaddeus: 1.) Gilles Peterson ist Schuld? Damit kann ich gut leben. 2.) Du bist schon wieder beim ersten Teil des Albums, das haben wir aber bereits hinter uns. Wir hören gerade den zweiten Teil. Wollen wir da weitermachen? Sonst hau den Drum and Bass in die Tonne und leg noch mal den quantisierten Brazil-Jazz auf.

Martin: Lassen wir doch den Gilles mal außen vor, der ist eben einfach nicht John Peel. Die zweite Seite hüpft auch nicht gerade lässig über den Zaun, mit „Greys“ oder „Pegasus 51“ verstrickt sich alles schon wieder im Maschendraht. Was haben wir hier also? Ein Album, das sich über vier 12"s erstreckt, bei dem es gerade mal drei Tracks schaffen, uns zum wippen zu bringen? Massive Attacks „Mezzanine“, neulich besprochen, hatte ein vergleichbares Problem. Man läuft nicht den langen, mühsamen Weg, nur um sich hinterher zu wundern, wo man denn angekommen ist. Das ist der Versuch einer praktizierten Massentauglichkeit à la 1998, und die, die lieben das. Lass uns „Logical Progression“ auflegen, da kommt mehr Stimmung auf.

Thaddeus: Moment, so leicht kommst du mir nicht davon. Uns bringen hier nicht nur drei Tracks zum Wippen. Dich vielleicht, bei mir sieht das deutlich anders aus. Das muss für das Protokoll bitte festgehalten werden, so viel Zeit sollte dann doch sein. Aber bei „Logical Progression“ bin ich unbedingt dabei – das sind ja nur Klassiker, die sofort wieder aufgelegt gehören. Genau wie der gesamte Backcatalogue von 4hero und alles von Reinforced. Noch ein Projekt für die kalte Jahreszeit auf der Suche nach der musikalischen Schnittmenge von Raabenstein und Herrmann. Vielleicht ist dein Drum and Bass ja doch auch mein Drum and Bass. Und ich schaffe es endlich, dir über den Breakbeat-Umweg Techno schmackhaft zu machen.

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