Die Spirale der Gewalt knackenDas Violence Prevention Network hilft jungen Menschen aus der Falle des Extremismus
21.9.2016 • Gesellschaft – Text: Monika HerrmannSie heißen Kevin, Mehmet, Fatma oder Tina. Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund schließen sich extremistischen Gruppen und deren Überzeugungen an. Und es werden immer mehr: Von rund 1.000 jungen Männern und Frauen geht der Verfassungsschutz derzeit aus. Jugendliche, die sich radikalisieren und bereit sind, für religiös motivierte Überzeugungen zu kämpfen. Und sogar in den Djihad, den so genannten Heiligen Krieg zu ziehen. Violence Prevention Network ist ein Verein, der in vielen Bundesländern dagegen hält, Beratung und Deradikalisierungsmaßnahmen anbietet, wenn Jugendliche auffällig werden und dabei sind, in radikale Milieus abzudriften oder schon mitten drin stecken.
Das Netzwerk hilft auch jungen Männern und Frauen, die bereits als Kämpfer des so genannten IS in Syrien als Kämpfer unterwegs waren, zurückgekehrt und jetzt in deutschen Gefängnissen inhaftiert sind. Sie werden beim Ausstieg begleitet, falls sie ihr Leben ändern wollen. Ein ähnliches Aussteigerprogramm bieten TrainerInnen des Vereins jenen Jugendlichen an, die sich rechtsextremistischen Parteien und Gruppieren angeschlossen haben oder Angst haben, in deren Kreise zu geraten. Eltern, Geschwister oder Freunde stellen oft die ersten Kontakte zu MitarbeiterInnen des Vereins her und bitten um Beratung und Hilfe. Mit Paul Merker, zuständig für Kommunikation, Lobbying und Fundraising, sprach Monika Herrmann für Das Filter über Rekrutierungen, Ausstiegshilfen und interkulturelles Lernen.
Herr Merker, Eltern bemerken ein verändertes Verhalten bei ihren Kindern, das sie verwundert und ängstigt. Die Tochter trägt plötzlich ein Kopftuch oder der Sohn besucht ständig die Moschee. Ist das ein Zeichen für eine beginnende Radikalisierung?
Paul Merker: Wenn junge Leute plötzlich die Religion entdecken, Mädchen sich verhüllen oder Jungs in die Moschee gehen, ist das erst mal nicht problematisch. Bitten uns Eltern um eine Beratung, würden wir erst mal den Einzelfall genau betrachten und einschätzen, ob tatsächlich eine Radikalisierung vorliegt. Falls ja, versuchen wir mit den Jugendlichen selbst Kontakt aufzunehmen und mit ihnen über die Beobachtungen anderer sprechen. Unsere MitarbeiterInnen reden dann beispielsweise offen über radikale Strömungen im Islam und deren Gefahren. Diese Gespräche führen TrainerInnen, die selbst Muslime sind und sich auskennen mit der Religion. Aber noch einmal: Nur weil jemand plötzlich ein Kopftuch trägt und in die Moschee geht, ist so ein Verhalten noch nicht problematisch. Ein Beispiel: Wenn ein Angehöriger, Nachbar oder auch Lehrer sich an uns wendet, prüfen wir sehr genau, welche konkreten Veränderungen sie bei den Jugendlichen wahrnehmen, ob sich der Freundeskreis verändert hat, ob demokratische Werte abgelehnt werden. Erst dann suchen wir ein Gespräch mit den betroffenen Jugendlichen. Dazu vereinbaren wir Treffen mit ihnen an Orten, die sie auch selbst bestimmen können.
Sind die Jugendlichen denn sofort bereit, über ihr verändertes Lebens mit den TrainerInnen zu reden?
Wenn die richtigen Fragen gestellt werden, öffnen sich die Jugendlichen. Es stellt sich dann heraus, ob überhaupt eine Radikalisierungs-Gefährdung vorliegt, sodass die Gespräche weiter gehen können. Wenn ja, geht es zunächst darum, heraus zu finden, aus welchen Gründen sich die Jugendlichen radikalisiert haben oder auf dem Weg dahin sind. Meistens stecken persönliche Lebenssituationen dahinter.
Zum Beispiel?
Brüche im Leben der Jugendlichen, Trennung der Eltern, keine Vaterfigur, Gewalt in der Familie, Scheitern in der Schule. Keine Anerkennung in der Clique. Wir arbeiten nach unserer Methode der Verantwortungspädagogik, mit einer demütigungsfreien Ansprache ohne Vorverurteilung. Das heißt: Man redet mit den Jugendlichen und versucht die Ursachen ihres Verhaltens herauszufinden. Dann arbeiten wir direkt an diesen weiter. Das Ziel ist immer: Jugendliche sollten von sich aus über ihr Verhalten nachdenken und dieses im besten Fall ändern, um zu einer Abkehr von extremistischem Verhaltensweisen zu kommen.
Reden denn junge Männer und Frauen offen und ehrlich über all die Ursachen, die sie angeführt haben? Normalerweise schämen sich junge Leute doch, wenn sie gescheitert sind.
Ja, das stimmt, aber unsere Erfahrung ist auch, dass die Jugendlichen sich oft alles von der Seele reden wollen: Ihre Enttäuschungen, die fehlende Anerkennung und auch ihre Ausgrenzung. Das ist die Basis für weitere Gespräche und letztlich für eine Einsicht.
Auch in vielen Elternhäusern müsste sich dann etwas ändern: Ziehen die Eltern da mit?
Die Eltern sind ja diejenigen, die in Sorge sind, weil ihr Kind in die extremistische Szene abdriften könnte oder schon mitten drin ist. Sie nehmen deshalb Hilfe an und verändern auch ihr eigenes Verhalten. Wir begleiten dann nicht nur ihre Kinder, sondern auch sie selbst. Wir beobachten, dass die soziale Herkunft der Eltern mit der Radikalisierung ihrer Söhne und Töchter oft wenig zu tun hat. Wir beraten auch Eltern, die keinen Migrationshintergrund und auch keine religiösen Wurzeln haben, deren Kinder aber mit radikalem islamistischem Gedankengut sympathisieren.
Radikalisierung betrifft alle Schichten: Kinder von PolizistInnen, LehrerInnen, AkademikerInnen oder ArbeiterInnen. Die Herkunft der Jugendlichen spielt oft keine Rolle, wenn sie in extremistische Szenen abgleiten. Und die Zahl dieser Jugendlichen nimmt zu.
Sie sind auch für diejenigen da, die schon als Soldaten in Syrien waren, dort für den IS gekämpft haben, jetzt zurück in Deutschland sind und im Gefängnis sitzen. Ein Programm für Aussteiger im Knast, damit sie wieder im normalen Alltag Fuß fassen?
Ganz genau. Unsere TrainerInnen sind in den Haftanstalten aktiv und sprechen direkt mit den Inhaftierten. Ziel ist nicht, die Jugendlichen zu überzeugen, sich vom Islam abzuwenden, sondern auf die friedliche Auslegung dieser Religion zu verweisen. Es gibt inzwischen einige, die aus Syrien nach Deutschland zurückgekehrt und bereit sind, hier ein friedliches Leben zu beginnen. Dabei unterstützen wir sie. Allerdings arbeiten wir noch längst nicht in allen Haftanstalten. Unsere TrainerInnen sind studierte Islamwissenschaftler und islamische Theologen. Insofern haben sie eine hohe Kompetenz, auch was die Inhalte des Korans angeht. Sie beobachten einen religiösen Analphabetismus bei vielen muslimischen Jugendlichen. Das heißt: Sie kennen sich mit dem Koran und der Religion nicht aus, sondern lassen sich von Extremisten für ihre Ziele instrumentalisieren. Beispielsweise von Rekrutierern aus der salafistischen Szene.
Das sind diejenigen, die junge Leute für den radikalen Islamismus begeistern. Wo finden ihre Erstkontakte zu Jugendlichen statt?
Im Internet natürlich, wo für salafistische Überzeugungen geworben wird. Aber auch in den Moscheen werden junge Männer und Frauen angesprochen. Oder bei diesen „Lies!“-Aktionen wie der Koranverteilung auf der Straße, wo radikale Salafisten ihre Stände aufbauen, den Koran verschenken und gezielt Jugendliche ansprechen. Viele lassen sich dann überzeugen.
Sie arbeiten mit der Sehitlik-Moschee in Berlin-Neukölln zusammen. Also einem Ort, an dem Muslime sich treffen und ihre Religion praktizieren. Worum geht es bei Ihrer Zusammenarbeit?
Unser gemeinsames Projekt heißt Bahira und bietet Beratung für Menschen an, die Unterstützung in der Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus brauchen. In dieser Moschee werden Jugendliche beraten, die viele Fragen haben und möglicherweise gefährdet sind, sich der radikal-islamistischen Szene anzuschließen. Auch Eltern und Angehörige können sich an unser Bahira-Team wenden. Wir bieten in der Moschee Informations-, Sensibilisierungs- und Fortbildungsveranstaltungen für Betroffene und MultiplikatorInnen an. Es ist also ein Projekt, das auch von muslimischer Seite mitgetragen wird.
Präventiv zu arbeiten, ist Ihnen im bundesweiten Netzwerk besonders wichtig. Welche Rolle spielen die Schulen in diesem Zusammenhang?
In vielen Schulen bieten wir Workshops an. Und zwar mit sehr guten Erfolgen. Zielgruppen sind die neunten und zehnten Klassen. Dort werden interreligiöse und interkulturelle Workshops durchgeführt, bei denen Schülerinnen und Schüler für das Thema religiöser Extremismus sensibilisiert werden. Sie lernen, wie die Rekrutierungsbemühungen der salafistischen Szene funktionieren, welche Gefahren es gibt. So können sie den den Anwerbungsversuchen widerstehen. Wichtig ist, dass sie lernen über ihre Beobachtungen mit anderen zu reden. Sie lernen in den Workshops aber auch die Religionen kennen, die es in ihrem Umfeld gibt. Praktisch sieht das dann so aus: Am ersten Tag des Workshops gehen wir mit der Klasse in die Moschee, am zweiten in eine christliche Kirche und am dritten ins Jüdische Museum. Ziel ist: Die Jugendlichen sollen die Religionen und ihre Gemeinsamkeiten kennen und wertschätzen lernen. Es geht dabei um Respekt. Unsere Erfahrung ist, dass die Jugendlichen dann offener auf Menschen zugehen. Egal welcher Religion sie angehören.
Endlich konnten wir über die Dinge reden, die uns wichtig sind. (Sahra, 16 Jahre)
Durch das Training weiß ich jetzt wieder, wo ich bin. (Ismael, 16 Jahre)
Ich habe verstanden, dass man mit Reden alles regeln kann. Vorher war ich nicht so. (Fatma, 15 Jahre)
Wir stellen Dialoge her und ermöglichen dadurch neue Sichtweisen. (ein Trainer)
Sie helfen auch beim Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene, also die jungen Neo-Nazis haben Sie im Blick.
Ja, das ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Mit den Trainings von Rechtsextremisten in Haftanstalten hat unsere Arbeit 2001 in Brandenburger Haftanstalten begonnen, 2007 haben wir unseren Ansatz auf die Zielgruppe der religiös motivierten ExtremistInnen übertragen. Bei der Ausstiegsbegleitung geht es um Jugendliche, die in der rechten Szene agieren und möglicherweise bereits gewalttätig geworden sind. Manche von ihnen erkennen, dass ihr Weg falsch war. Wir bieten ihnen Hilfe beim Ausstieg. Auch hier sind die Angehörigen oder Freunde oft diejenigen, die den Erstkontakt herstellen. Wir bieten dann den radikalisierten Jugendlichen ebenfalls Gespräche und Begleitung an und sind in diesem Bereich auch präventiv in Form von Workshops an Schulen aktiv, aber auch mit Coachings und der Ausbildung von MultiplikatorInnen. Sind junge Rechtsradikale aufgrund von Gewaltstraftaten bereits in Haft, werden sie sowohl in den Haftanstalten als auch nach ihrer Entlassung betreut. Die Angehörigen werden dabei in die Arbeit miteinbezogen.
Extremismus gibt es auch in anderen Religionen. Tangiert Sie das?
Bisher kenne ich keinen solchen Fall aus einer anderen Religion , der uns beschäftigt hat. Wir konzentrieren uns auf den vom Islamismus beeinflussten Extremismus.
Vielen Dank, Herr Merker.
Die Täter warten auf der Straße. Eine farbige Familie, die Einkaufstüten in ihren Wagen lädt. Ein älterer Kamerad gibt grünes Licht. „Siehst du da die Negerfamilie?“ Der Jugendliche rennt zum Auto und drischt auf den Mann ein. Die anderen beiden Täter halten die Frau und den 10-jährigen Jungen zurück. Das Opfer liegt blutend am Boden. Der Täter steigt auf eine Parkbank um mit Springerstiefeln auf den Kopf seines Opfers zu springen. Der ältere Mittäter greift ein. „Es reicht“! Die Täter verlassen den Tatort und feiern die Aufnahme des Jüngeren in die Kameradschaft. Er hat den Gehorsamstest bestanden.
„Es war berauschend, ich konnte über Leben und Tod entscheiden“.
„Konntest du nicht, du musstest gehorchen, andere haben entschieden.“
„Ich hätte es aber getan, der Mann war mir völlig egal und die Frau hätte ich auch zusammengeschlagen, alles Neger“
„Hast du das Kind schreien gehört?“
„Wollte ich nicht.“
„Was meinst du, welche Gefühle hat der kleine Junge gehabt, als er sah, dass sein Vater um sein Leben ringt?“
„Ohnmacht... Wut... Verzweiflung... unglaubliche Angst... aber ich habe kein Mitleid mit denen.“
„Was meinst, wie wird der kleine Junge eines Tages mit diesen Gefühlen umgehen?“
„Eines Tages springt er jemandem auf den Kopf“
Schweigen